Das Vermächtnis des Johannes 

Das Leben eines Schrankenwärters in den Farben der Einsamkeit erzählt.

 

Das Werk ist getan! Johannes verriegelt die Tür des Geräteschuppens und schlurft ein letztes Mal die 18 Stufen zu seinem Dienstraum hinauf, hoch droben im Schrankenwärterhaus.

Mit klammen Fingern steckt er ein paar Brikett hinter die Feuerklappe des Kanonenofens, rüttelte mit dem Eisen die Asche durch und starrt in die stiebenden Funken. Auf der Ofenplatte summt leise die blecherne Kaffeekanne. Johannes gießt einen Schluck nach und wärmte sich die Hände an der Tasse. Er lässt die Zeit verrinnen. Draußen wirbeln die ersten Schneeflocken gegen die mattfahlen Scheiben. Der Winter grimmt schon recht früh in diesem Jahr. Die Augen des Johannes fahren die Schienenstränge entlang. Irgendwo in der Ferne verliert sich sein Blick. 35 Jahre hat er hier seinen Dienst gelebt, war Schrankenwärter durch und durch. Schranken runter kurbeln, Schranken rauf kurbeln, den Zug zum Kollegen in der nächsten Station weiter melden und zwischendurch die Seilstränge fetten sowie die Lagerung der Schrankenbäume gängig halten. Das war sein Dienst, das war sein Leben. Johannes streicht noch mal liebevoll über jedes Detail des eher karg eingerichteten Raums. Wie oft hatte er in den Jahren hier an den Fenstern gestanden, wenn die Züge vorüber donnerten. Immer die Hand an der Mütze zum Gruß erhoben. Die meisten Lokführer kannten ihn wohl und erwiderten sein Gruß mit einem kurzen Pfiff der Lokomotive. Wo diese dann hin fuhren, hat ihn gar nicht so sehr interessiert. Er selber war kaum aus seiner angestammten Heimat herausgekommen. Die Kreisstadt hatte er hin und wieder besucht, und mit der Anna, seiner Frau, war er einmal für eine Woche in den Westerwald; und dann war er noch in Berlin gewesen. Doch in dieser Stadt hatte er sich gefürchtet – zu viele Menschen waren nicht sein Ding. Fortan zog er es vor, die Welt klein zu sehen. 20 Kilometer im Kreise, so etwa. Seine Welt war überschaubar. Änderungen liebte er so gar nicht. Den Kopf mit Büchern zu zerbrechen, betrachtete er als unsinnig. Johannes war ein bisschen einfach „gestrickt“, so kann man es wohl umschreiben. Was er unbedingt wissen musste, erfuhr er aus der Lokalzeitung und aus einem alten Röhren-Radio. Mit den Jahren kam auch noch ein kleiner Fernseher hinzu. Nun aber sollte moderne Technik den Johannes ersetzen. Eine Automatik machte den Schrankenwärter überflüssig. "Die letzten Monate möge er hier doch weiter verbringen", bekam er die Order. "Beobachten, dass alles reibungslos läuft". Seine Vorgesetzten wussten wohl um die große Treue des Johannes zu „seinem“ Schrankenwärterhaus. Sie wollten ihm deshalb auch keinen neuen Posten mehr geben, sondern einfach die Freude bereiten, hier noch die restliche Zeit seines Dienstlebens zu verbringen. Das sagten sie Johannes natürlich nicht so direkt. Den Glauben daran, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, sollte ihm nicht genommen werden. Was sollte er auch zu Hause machen? Das kleine, schon recht bejahrte Häuschen war nie seine Welt gewesen. Es war stets der Obhut seiner Anna überlassen. Doch die Anna war nun auch schon 10 Jahre tot. Und allzu viel hatte die Anna auch nicht vom Johannes gehabt. Zuviel Zeit hatte er in "seinem" Reich verbracht.  

Hinter dem Schrankenwärterhaus, auf der Südseite, hatte er nach und nach, so ganz nach seiner Vorstellung, ein kleines Paradies geschaffen. Einen Gemüsegarten angelegt, Blumen in prächtigen Farben erblühen lassen und einen Kirschbaum gepflanzt. Am Haus, das eine stattliche Höhe aufwies - des Überblicks wegen, weil die Streckenführung einen weiten Bogen machte - rankten sich die schönsten Kletterrosen. In den Brombeersträuchern, die als natürliche Hecke dienten, summten im Sommer unzählige Bienen; und Vögel fühlten sich hier recht wohl. An der wärmenden Mauer saß er des Öfteren auf der selbst gezimmerten Holzbank und schaute seinen Kaninchen zu, die er in einem kleinen Verschlag hielt. So drei, vier von der Sorte hatte er immer dort untergebracht. Sooft es ihm möglich war, saß er während der hellen Tage in seiner stimmigen Welt und schmauchte genügsam sein Pfeifchen. Die Anzahl der Züge hielt sich in Grenzen; der Fahrplan war ohnehin im Kopf gespeichert. Auf die Sekunde genau wusste er, wann es dienstlich würde. Für die Nacht löste ihn dann stets der Kollege Karl ab. Der Karl wollte immer nur den Nachtdienst haben, der Gemütlichkeit und der Ruhe wegen. Und Karl las dann Unmengen von diesen Groschenroman-Krimis. Züge fuhren des Nachts eh’ nur spärlich. 

Vom Schrankenwärter Johannes wusste man eigentlich eher wenig. Wenn man es genau betrachtete, sogar fast nichts. Oft sahen die Leute ihn draußen in der Sonne sitzen. Sie grüßten ihn, er grüßte zurück – das war es dann auch schon. Ein richtiges Schwätzchen wurde ihm nur höchst selten entlockt. Und wenn die kalte Jahreszeit begann, gewahrte man ihn kaum noch - bestenfalls sein Schatten unter der funzeligen Lampe, droben im Dienstraum. 

Nun war geregelt, was noch zu regeln war. Johannes löste sich aus seiner Starre, entkrampfte die Hände von der blechernen Tasse, löschte das Feuer im Ofen und packte dann seine wenigen Habseligkeiten in den Rucksack: Seine Kaffeekanne, die Tasse mit den vielen Emailsprüngen, das Essbesteck, ein paar Lebensmittel… und das Fahrbuch natürlich. Das war's! Draußen dreht er den Schlüssel einmal im Schloss und geht dann stockenden Schrittes die Stufen hinunter. Den Kragen seiner dicken Dienstjacke schlägt er hoch, ein kalter Ostwind greift in sein Gesicht. So ging er forschen Schrittes, ohne sich auch nur noch einmal umzuwenden in den späten Nachmittag. Nächsten Tages würde ein kleiner Bahntrupp anrücken und das noch verwertbare Inventar ausräumen. Dann würde die Stille Einkehr halten. Doch das würde Johannes nicht mehr sehen wollen. 

Johannes verließ sein Haus dann auch nur noch, wenn es um nötige Einkäufe ging oder ein Besuch zum Arzt unumgänglich wurde. Die einen sprachen von einer unheilbaren Herzkrankheit, andere sagten, er hätte mit seiner Welt nichts mehr anfangen können. Und so trug man ihn zu Grabe, den Johannes, nicht mal ein Jahr später. 

  

Das alles ist nun schon ein paar Jahrzehnte her. Seit Johannes damals das Schrankenwärterhaus verließ, machten allerdings seltsame Gerüchte die Runde. Es Spukt! sagen die Leute. So ein um das andere Mal wurde aus dem Haus heraus ein verzerrt klingender, scheppernder Glockenschlag vernommen. Immer wieder berichteten auch Spaziergänger davon. Hin und wieder sah man Landstreicher dort herumstreunen. Deshalb wurde das Geräusch auch jenem Gelumpe zugeordnet. Doch auch die Landstreicher verschwanden meist nach kurzer Zeit. Das Gebäude war ihnen nicht so ganz geheuer. Nicht Wenige hielten das Geraune darüber aber für reine Spinnerei. Doch dann hatten es auch wieder andere gehört, die dort bei Regen eine Weile vor dem Schlechtwetter Schutz suchten. Tatsächlich, so wusste man mittlerweile, wurde nur bei nasser Witterung dieser seltsame Glockenklang vernehmbar. Der Johannes spukt dort rum; er findet keine Ruhe, hieß es schon lange. Für die Kinder im Ort bedeutete das Betreten dieses Gruselhauses dann auch die absolute Mutprobe; damit konnte man bei der übrigen Kinderschar Respekt sammeln.  

Vor wenigen Jahren nun wurde das umliegende Land jenseits des Bahnübergangs zu Bauland erklärt. Damit schlug auch die endgültige Todesstunde des Spukhauses. Es passte nicht zu den neuen Häusern in der Umgebung. Und außerdem, je nach Wohnlage störte es die freie Sicht auf einen Buchenhain. So rückte dann schnell ein großer Bagger an. Und in weniger als zwei Stunden stand nur noch die östliche Grundmauer, die in den Hang hinein gebaut war. Franz, der Baggerführer, hatte schnell ganze Arbeit geleistet und machte sich nun daran, auch diesen Rest abzutragen. Als er dann die Baggerschaufel mit Schwung gegen die Mauer krachen ließ, tat sich darin eine Öffnung auf. Sein geschulter Blick witterte natürlich sofort etwas. Mit einer großen Taschenlampe leuchtete er in den dahinter liegenden Hohlraum hinein. Dort öffnete sich ein etwa garagengroßer Raum, der in den Hang gehöhlt und mit dicken Holzbohlen gegen Einsturz gesichert war. Rasch vergrößerte Franz die Öffnung so weit, dass er durchsteigen konnte. Inmitten des Raumes sichtet er eine große, auf einem Holzgestell aufgebockte Platte. Als er nun die mit dickem Ölpapier abgedeckte Platte nach einem ersten flüchtigen Blick neugierig untersucht, pocht sein Herz doch gewaltig. Er sichtet eine Modelleisenbahnanlage. Eine Anlage mit solcher Detailgenauigkeit hatte er bisher nie gesehen. Da stimmte aber auch die kleinste Kleinigkeit. Fast sah es so aus, als wären die vielen Züge dort soeben noch gefahren worden. Es sei angemerkt, dass der Franz ein großer Eisenbahnfan ist. Besonders die alten Eisenbahnen haben es ihn angetan. Und in seinem Hobbykeller türmt sich das „Zeugs“ - wie die Gattin zu seiner Liebhaberei zu sagen pflegt - bis in allen irgendwie noch freien Ecken. An den Wänden ringsum sind alle Sachen aufgereiht, die ehemals zu einem echten Schrankenwärterhaus gehörten: Signallampen, ein Horn, Kurbeln zum Bedienen der Schranken, ein alter Dienstmantel sowie eine Dienstmütze. In der hintersten Ecke steht das Läutewerk der Schranken, das ehedem dazu diente, Fußgänger und Autofahrer vor dem Niedergehen der Schranken zu warnen. Dieses Läutewerk hatte der Johannes mit einem Federmechanismus gekoppelt. Und dieser wiederum war mit einem kleinen gewölbten Behälter verbunden, ähnlich dem einer Waagschale. 

Draußen geht derweil ein Sommergewitter ab. Franz beobachtet, wie aus einem dünnen verrosteten Rohr ein spärlicher Wasserstrahl fließend die Schale langsam füllt und dabei die Metallfeder spannt. Als das Behältnis nahezu vollgelaufen, kippt es nach vorne und entlädt das Wasser. Dabei löst sich die Federspannung und lässt den Klöppel des Läutewerks gegen das Eisen schlagen. Fasziniert schüttelt Franz den Kopf und schiebt die Kappe in den Nacken. Und schon füllt sich die Schale erneut mit Regenwasser. Das Geheimnis um das spukende Schrankenwärterhauses wäre somit gelüftet. 

Die Augen des Franz leuchten einem Kind gleich, das im vorweihnachtlichen Spielzeugladen staunt. Immer wieder entdeckt er neue Kleinigkeiten, die sein Herz vor Freude merklich pochen lässt. Ja doch, den alten Johannes hatte er schon noch gekannt. Kind war er damals, da hatte er ihn einige Male hier besucht. Wortkarg war er, und ein bisschen hatte er den Griesgrämigen auch gefürchtet. Doch stets, so war ihm schon damals aufgefallen, hatte der Johannes ein Funkeln ihn den Augen, wenn ein Zug angekündigt war; um dass er dann sogleich mit viel Schwung und unter dem Einsatz des ganzen Körpers die Schranken herunterkurbelte. 

Auf dem Steuerstand der Anlage sichtet Franz einen verblichenen Briefumschlag, den er nun neugierig öffnet. In krakeliger Handschrift steht dort in sparsamen Worten: „Es dauert wohl nicht lange, bis ihr mein Geheimnis gewahr werdet. Den Entdecker dieses Ortes bitte ich inständig, diese Anlage sehr pfleglich zu behandeln. Dies alles hier war mein Leben, bevor es mir genommen wurde.  Gerührt murmelt Franz: „ich verspreche dir, Johannes, dass ich dein Erbe in Ehre halten werde… und viele sollen es sehen“. 

Die Sonne bricht nun strahlend durch und bringt dem Raum ein Leuchten. Erneut schlägt der Klöppel auf Eisen. Ein letztes Mal!   

 

Ende