Ein Nachkriegskinderleben auf dem Dorfe

 

Ich beschreibe hier meine Kindheit. Diese beginnt im Kriegsjahr 1944 mit meiner Geburt. Meine Erinnerungen setzen aber naturgegeben erst im Jahre 1947 ein. Beschreiben will ich diese Zeit bis etwa 1956. Ich versuche mich zu erinnern, was in dieser Zeit geschah. Manches ist bereits in der Versenkung verschwunden, anderes kam beim Schreiben dieses kleinen Buches wieder zum Vorschein. Vieles aber ist noch so nah, als wäre es gestern gewesen. Meine Erzählungen sind nicht chronologisch aufgebaut, sondern so wie sie beim Schreiben vor meinem inneren Auge ablaufen. Meine Erinnerungen erheben auch keinen Anspruch auf exakte Genauigkeit; die Jahre verwischen vieles. Deshalb: Es muss nicht alles so ganz genau erlebt worden sein... doch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ist es so gewesen. Wer zu jener Zeit lebte, erinnert sich vielleicht wieder und kann sich mit manchem identifizieren. Die Beschreibung der Nachkriegszeit kleide ich in einer oftmals humorvollen Art. Für die Erwachsenen damals war die Zeit wohl oft alles anders als lustig. In die Haut meiner Eltern hätte ich nicht stecken mögen – der täglichen Sorgen wegen. Doch der Humor ging den Leuten auch in dieser Zeit nicht verlustig. Ganz bestimmt war dieser ehrlicher als heutzutage. Kinderaugen sehen die Welt anders. Wann ist man schon unbeschwerter und sorgloser, als in der Kindheit? Und Kind waren wir doch alle mal. 

 

Am achten Märztag des Jahres 1944, es war ein Mittwoch, so gegen 16.00 Uhr, erblickte ich in der Neußerstraße 20 in Jüchen  - "Nüßerhött" genannt - erstmals die Welt. 

Am Abend lernte ich dann schon den Keller des Hauses kennen. Bombenalarm! Es war Krieg in Deutschland und der Welt... 

Jüchen am Niederrhein. acht verbrachte ich im Keller unseres Hauses. Es war Krieg

 

  Kapitel

 1. Die  Hött
 2. Die Stra
ße 
 3. Die Reise nach M
önchengladbach 
 4. Eiszeit 
 5. Kirmeszeit 
 6. Osterzeit 
 7. Ein Haus mit Herz 
 8. Karfreitagswanderungen 
 9. Jupp und der verwunschene Garten 
10. Von Sachsen und Buttercremetorten 
11. Erste Erfahrungen 
12. Die Belgier kommen 
13. Landausflüge 
14. Kampfansage 
15. Schnaps und Schinken 
16. Sommerzeit 
17. Straßengeschäfte
 
18. Der Müllmann kommt 
19. Die liebe Nachbarschaft 
20. Sommersonntagmorgen und G
ötterspeise 
21. Der Bauchladen 
22. Das Psychohaus 
23. Gehres Pitter 
24. Badezeit und grüne Hosen 
25. Der gro
ße Strom 
26. Wald, Berge und das Sauerland 
27. Zeitvertreib und Weihnachtsgedanken 
28. Kalte Winterabende 
29. Gierath – oder das Ende der Welt 
30. Wiener Schnitten und Rhabarber 
31. Es lebe der Sport 
32. Die Fabrik 
33. Die Siedler 
34. Eier und Pflaumenmus 
35. K
öln, der Rhein und Coca Cola 
36. Wechseljahre 
37. Leinwandbilder und anderes Theater 
38. Der sch
önste Tag des Lebens? 
39. Lesestunde 
40. Neue Zeiten 
41. Adieu Kinderzeit – Ein Nachruf

 

 

 

 

 

1. Die Hött

Tag und Nacht ratterten die Webstühle der Textilfabrik Schwartz & Klein mit  berauschenden, jedoch eher wenig betörenden Klängen über den lang gestreckten Garten unseres Hauses hinweg bis zu meinen Ohren. Ohne Mühe wurden die 100 Meter überbrückt. Bis dann am Samstagmittag Schluss war. Der Wind war dann oft nur noch das einzige Geräusch, das  diesen abgetrennten "Wurmfortsatz" des Dorfes Jüchen umwehte. Wegen seiner isolierten Lage am  Ende der Neußerstraße der Einfachheit halber eben  "Nüßerhött" benannt. 
Zwischen der Nüßerhött und Jüchen lag schon eine Menge Luft, so etwa 250 oder 300 Meter. Die Strecke habe ich nie ausgemessen, für mich als Kind waren es aber schon eher Kilometer. Hinter der Fabrik verbog sich in einer weiten Kurve die Bahntrasse, wo ab und an die Züge aus Richtung irgendwo heranprusteten und nach Richtung nirgendwo wieder entschwanden. Was hinter dem Bahndamm zum Süden hin lag, war eher dumpfes Ahnen. Zum Norden hin, über die Weide des Bauern Schauten (Schauter) hinweg, wölbte sich eine leichte Anhöhe, aus der sich eher etwas keck, die Spitze eines Kirchleins empor reckte. Diese war Kelzenberg zugehörig, einem mickrigen Bauernflecken, zwischen Feld und Hügel eingebettet. Ein wenig nach Osten hin und schon ein gutes Stück entfernt, ein einzelnes Haus. Die Witwe Weyermanns hauste mit ihren drei Söhnen darin. Und noch ein Stück weiter hinter den Weyermanns, die Bauernschaft Herberath, mit dem Anhängsel Bissen. Ganz hinten im Osten und schon recht fern, war der Ort Gierath zu erahnen. Von dort an hörte die Welt für mich endgültig auf. Ackerland, weite Weideflächen, ein einzelner Strauch, mal da und dort ein Baum, und dazu viel, viel hoher Himmel. Das war meine unmittelbare Heimat. Die Erde war für mein junges Leben halt noch eine Scheibe, die dort abrupt abbrach.

 

  

2. Die Straße

Da wohnte ich nun mittig von acht dunklen Häusern, deren Reihenhauscharakter durch spaltenartige Gassen ein wenig aufgelockert schien. Zwar wohnten wir nicht ganz genau in der Mitte - unser Haus war etwas breiter als die übrigen Häuser – aber „Mittelpunkt“ waren wir schon. Ganz links hatten sich die Thives eingenistet; es folgte die Hausgemeinschaft Kreuels und Helpenstein; dann die Jung mit den Liefländer; und als direkte Nachbarn, der alte Schmitz und dessen Tochter „dat Schmitze Billa“. Mitbewohner waren die Laufs, später die Kärcher. Rechts dann das „Viermädelhaus“ der Geschwister Görtz; daran anschließend der Jupp Voigt und die Weyers; und zum Schluss das Ehepaar Lingen oben im Haus und „Humpel-Klara“ unten. Klara, die Arme, hatte ein verkürztes Bein. Das Warum und Weshalb hat mich zu der Zeit aber noch wenig interessiert. Ganz Schluss mit meiner kleinen Heimat war bei Klara aber noch nicht, es folgten noch zwei weitere mickrige Häuschen. Heute würde man vielleicht Schrebergartenlauben dazu sagen. Zunächst liegend, im linken, die Familie Reipen; und daran anschließend, der Gessler, sein Hund und seine Frau - in dieser Reihenfolge. Geheuer war er mir nie, dieser Gessler, sprach er doch kein Plattdeutsch - stets griesgrämig gesinnt und zudem auch noch evangelisch. Sein Hund hatte ähnlichen Charakter. Einzig Frau Gessler, die war schon in Ordnung. Hinter den Gesslers dann … Luft und Wiesen!

 
Und in dieser kleinen Welt aus schon angedunkeltem Backstein wurde ich am achten Märztag anno 1944 zur Kaffeezeit in das raue Leben gedrückt. Über Deutschland und noch ein bisschen weiter herrschte derzeit ein gewisser "Heil Hitler“. Allerdings wussten meine Ahnen nun auch nicht mehr so genau, wer gerade das Sagen hatte, denn die Lufthoheit besaßen derzeit schon die "Amis" und die "Kingdoms"; also die Briten. So wurde ich kurz nach meinem ersten Schrei bereits ins Souterrain, nämlich in den einraumigen und feuchten Keller des Hauses verbracht. Als die Amis und die Briten dann auch die Landhoheit übernahmen, stand meiner weiteren Kindheit nichts mehr im Wege. So richtig wach wurde ich dann aber erst etwa drei Jahre weiter. Von da an setzt meine Lebenserinnerung ein. Eine Gehirnerschütterung, die ich infolge eines Aufprallers mit einem LKW davontrug, hatte in meinem Kopf für leichte Verwirrung gesorgt. Ob dieser Vorgang nun negativer oder positiver Natur war - meiner geistigen Zukunft betreffend - vermag ich selbst nicht zu beurteilen. Jedenfalls vom körperlichen besehen wuchs ich wohlgenährt heran - nicht eben dick, doch der damaligen Hungerzeit schon recht überlegen. Deshalb erhielt ich den Zusatznamen “Dicke“. Dicker wurde zu jener Zeit aber schon jeder genannt, der etwas breiter als schlank war. „Das hat mit der Hitlerbutter zu tun“ (Zusatzration für Neugeborene), klärte mich meine Mutter auf. Zwei Brüder, Heinz und Jupp, waren schon da; die waren etwas schlanker. Ein weiterer Schlanker, Alfred, folgte nach mir; ebenso eine Schwester, die Christel; ein etwas besser genährter Nachzügler, der Kurt, folgte endlich auch noch. Dann war basta! 

Mein Vater legte abends ein Bein ab. Dieses war aus Holz, das ursprüngliche war in Russland verblieben. Das hatte er jenem „Heil Hitler“ zu verdanken. Und diesem „Heil Hitler“ verdanke ich dann aber auch ausgerechnet mein Leben. Denn wäre mein Vater 1943 nicht verwundet nach Hause gekommen, hätte er kaum seinen ehelichen Pflichten nachkommen können. Ja, der „Heil Hitler“, der spielte noch oft eine Rolle in den kommenden Jahren. 

 

 

3. Die Reise nach Mönchengladbach

Dem Bein, dem Holzbein wohlbemerkt, verdanke ich meine erste Gladbachreise. Immer wenn das restliche Originalbein, also der „Stumpen“ schmerzte, wurde das Hosenbein hochgeklappt und mittels einer Sicherheitsnadel festgehalten. Weiter ging es dann auf Krücken. Die Werkstatt für Holzbeine war in Mönchengladbach. Und wenn mal wieder eine Anpassung nötig wurde, ging die Reise dorthin. Ab Rheydt wurde in die „Elektrische“ umgestiegen. Ein Riesenerlebnis, mit diesem ratternden Ungeheuer zwischen den zerbombten Häuser zu schaukeln. Schnell begriff ich auch, dass jener Mann in Uniform, mit der Knipszange in der Hand, unser Feind war. Der Mensch kontrollierte immer die Fahrkarten und hatte dabei stets einen misstrauischen Blick. So galt es, an den Haltestellen hurtig umzusteigen in einen anderen Wagen. Die Logik dieses Tun war mir zwar noch nicht recht geläufig, doch zweifelte ich auch nicht an deren Richtigkeit. Angekommen in der großen Stadt galt es viel zu sehen, zu entdecken und zu bestaunen. Vor allen Dingen die Geschäfte, mit nie gesehenen Waren. In Erinnerung geblieben ist mir sehr wohl der Eisstand am Kaufhof. Das Eis schmeckte nach Banane. Wundervoll! Ansonsten gab es ja nur Vanille und Schokolade. Bananeneis war neu für mich.   

 

 

 

4. Eiszeit

Vanille und Schokolade kam des Sommers in Form eines dreirädrigen Stinkers - mehr oder weniger oft - in der Nüßerhött vorgefahren. Weithin klang seine Glocke, die nun in aller Kürze allerlei Genuss ankündigte. „Knolli“ wurde der Eismann genannt und aus Gierath kommend. Tatsächlich hatte sein Kopf die Form einer Futterrübe. Und bei heißem Sommersonnenschein nahm dieser auch deren Farbe an. Schnellstens wurde die Mutter alarmiert, die den nötigen Groschen oder auch zwei herausrückte. Diese waren nun mal vonnöten, um Besitzer jener Köstlichkeit zu werden, die dort im Inneren einer Holzkiste darauf wartete, in meine Hand zu gelangen. Natürlich wurde „Knolli“ immer genauestens ob seines Tun beobachtet. Bei zu viel Unachtsamkeit griff die Hand (nicht nur meine alleine) dann schon mal ganz schnell unter die chromglänzenden Deckel, die das Eis vor Wärme schützen sollten. Es waren halt lausige Zeiten! Später kam noch so ein Eiskerl. Heyl, so glaube ich mich zu erinnern, war sein Name - er kam aus Priesterath. Die Menge Eis für den Groschen war zwar etwa gleich groß wie bei Knolli, doch dafür hatte dieser Eismann die besondere Gabe, Milch in Wasser zu verwandeln. Wegen dieser Begabung war er nicht so sehr beliebt bei uns.

 

 

5. Kirmeszeit

Eis gab es zusätzlich im Juli - dann aber aus besonderem Anlass. Der Heilige Jakobus feierte Namenstag. Er war der Schutzheilige unserer Kirche. In Jüchen war dann große Kirmes angesagt. Proppenvoll, im schönen Marktplatz eingebettet, das bunte Jahrmarktstreiben. Der Markt, der dem Ort die Mitte gab, war zum Teil bewachsen mit alten Bäumen, die wiederum einen Brunnen zierten. Schon von Weitem jaulte eine Sirene im ab- und anschwellenden Ton; und kündigte das Selbstfahrergeschäft der Schaustellerfamilie Rosenzweig und somit den Beginn der Kirmes an.

Samstagabend war es dann soweit: Die Eltern machten sich und uns Kinder fein, soweit dies den Umständen entsprechend möglich war, und machten uns sodann auf den „weiten“ Weg ins Dorf. Sogleich bei der Gaststätte Ecken-Cremer (Eckes), um die Straßenkurve herum, standen bereits die ersten bunten Kirmesbuden: Papierblumen in allen Farben leuchteten, gläserne Spazierstöcke mit vielen bunten Liebesperlen schaukelten im Licht, Lakritzstangen und Lebkuchenherzen lockten; sowie leuchtend rote Paradiesäpfel und gefüllte Waffeln. Dies alles sorgte für anhaltenden Speichelfluss im Mund. Überall war Leben, überall große Kinderaugen, Karussells drehten sich zum Orgelklang. Alleine an der Orgel des Kinderkarussells konnte ich mich nicht genug satt sehen und -hören. Und wenn ich dann auch noch auf eines der bunt lackierten Holzpferdchen eine Runde drehen zu durfte, war das alles schon Höhepunkt genug. Der Duft von Bratfisch und Rollmops, vermengt mit dem herrlichen Duft gebrannter Mandeln, hüllte das Geschehen ein. Doch am liebsten war mir der Geruch von Vanilleeis. Und dieser kam aus Kremers Eisbude. Magisch zogen mich die bunten Spiralen der Schwungräder der Eismaschinen an. Diese sorgten dafür, die duftenden Zutaten zu herrlichem Vanilleeis und Schokoladeneis zu verrühren. Vom Gerührten dann eine ordentliche Portion in der Hand zu halten und genüsslich aus dem gefüllten Hörnchen zu lecken, sorgte augenblicklich für ausgeglichenes Wohlbehagen. Eine Runde auf der Raupenbahn schockierte mich zunächst doch sehr. Irgendwann während der rasanten Berg- und Talfahrt schlug das Verdeck über mich zusammen; und da glaubte ich schon, nie mehr das Tageslicht zu erblicken. Misstrauisch war ich schon immer. So stand ich auch voller Erwartung vor jener Schaubude, die die „Dame ohne Unterleib“ im Angebot hatte. Stunde um Stunde schaute ich mir die Schaukästen mit dem körperlosen Kopf an, drehte die Münzen in der Tasche hin und her – rein oder nicht rein? Schließlich siegte die ungestillte Neugier, um das Geheimnis der Dame ohne Körper im Inneren der Bude zu erfahren. Auch wenn dieser Entschluss nur dazu führte, dass der weitere Tag mangels Geldes dürftig ausfallen würde. Trotzdem kam ich nicht hinter das Geheimnis der körperlosen Dame - und war deswegen schon etwas sauer. Noch wichtiger aber war, unbedingt auf Onkel Hein aus Priesterath zu treffen. Dieser stets korrekt gekleidete Onkel, mit einem riesigen Schädel gesegnet, hatte stets ein freundliches Wort für uns Kinder über. Ein blankes 50-Pfennigstück hatte er immer für mich als Kirmesgeld dabei. Und wenn er dann noch in seiner stets mitgeführten Aktentasche griff, kam mit Sicherheit eine Tüte Bonbon hervor. Er selber hatte seinen einzigen Sohn im Krieg verloren. Seine Frau, also Tante Agnes, war eine stets fröhliche und lebensbejahende Frau. Leider starb sie alsbald. Dienstags betrachtete ich dann mit Wehmut, dass mit dem Abbau der bunten Pracht begonnen wurde. Wenn die Dame in Schwarz vom Selbstfahrergeschäft ein letztes Mal die Sirene ertönen ließ… um dann mit der Geldkassette zu ihrem Kirmeswagen humpelte... und wenn die uralte Frau Rosenzweig von der Schiffschaukel ein letztes Mal gierig mit ihren langen Fingern die Geldstücke eingezogen hatte, wusste ich, es wird wieder ein langes Jahr dauern, bis sich der Marktplatz erneut füllen wird.

 

 

 

 6. Osterzeit

Die Jahreszeiten an der Nüßerhött waren in Gänze ausgefüllt. Auf den Frühling freute ich mich immer ganz besonders. Kaum schmolz der letzte Schnee dahin, blühten nebenan in Schmitzens Garten inmitten eines Buchsbaumdreiecks viele, viele Schneeglöckchen. Die Natur an sich lag mir stets ganz besonders am Herzen. Alles was grünte und bunte Blüten trieb liebte ich ganz besonders. Im beginnenden Frühling saß ich oft vor unserem Schwarzbeerstrauch im Garten, um die Austriebe des ersten zarten, leuchtenden Grüns zu beobachten. An den Wurzelstämmen der langen Naturhecke im Garten sprossen die Veilchen hervor. Immer wieder pflückte ich welche ab, um sie meiner Mutter zu schenken. Am Bach begann das Gras zu wuchern. Auf den Wiesen breiteten sich nach und nach gelbe Teppiche aus Löwenzahn aus. Der Frühling erweckte die Natur zu einer satten, blühenden Pracht und war zugleich Vorbote langer, heißer Sommertage. 
Das nahe Osterfest war immer etwas Besonderes im Jahr. Am Karfreitag hieß es für gewöhnlich: "Heute geht es in den Garten." Und dieser Gang war mit Arbeit verbunden. Der Karfreitag war der auserkorene Tag, an dem alle Katholiken unserer Straße den Garten bearbeiteten (bis auf den alten Jung, der begann schon im Februar mit der Graberei). Gartenarbeit hieß dann aber auch, dass das Klo geleert wurde. Mittels eines „Jötschklomp“, ein eimerartiges Gerät - andere benutzten auch einen alten Wehrmachtsstahlhelm dazu - wurde die saftige Brühe an das Tageslicht befördert. Es roch erbärmlich, so erbärmlich, dass es sogar Jesus am Kreuze übel geworden wäre, - dem dieser Tag ja nun mal gewidmet war. So wurde aus dem Loch neben dem Plumpsklo geschöpft und geschöpft. Dabei wurde nicht sehr zimperlich auf Schuhe und Hose geachtet -  und so mancher „Schöpfungsakt“ ging daneben. Dieser Geruch haftete dann manchmal auch noch die Osterfesttage der Haut an. Dieses besondere „Aftershave“ vermischte sich mit dem Weihrauchduft, der Gott zur Ehr’ beim Hochamt in der Kirche reichlich verschaukelt wurde. Hochämter waren für mich der reinste Graus: Erstens dauerten sie recht lange, zweitens wurde ständig lateinsprachig geredet und gesungen... und drittens waren die Höflinge (Messdiener) des Pastors enorm eifrig und mit heftigem Schwenken dabei, eben jenen Geruch zu verbreiten, bei dem mir regelrecht übel wurde. Anders gesagt: Weihrauch war für mich ein bestialischer Gestank! Nach dem Kirchgang wurde sich dann draußen vor der Kirchentür gegenseitig ein Frohes Ostern gewünscht. Und entgegen sonstiger Gepflogenheit hatten die Leute es überhaupt nicht eilig nach Hause zu kommen. Besonders die Damenwelt zierte sich nicht, die frisch von der Stange erworbene Sommermode einem aufmerksamen Publikum vorzuführen. Ostern war nämlich der Tag des Kleiderwechsels, Allerheiligen dann wiederum der Tag, an dem die Wintermode vorgeführt wurde. Da fielen dann so Sätze wie: “Ach, Frau Schmitz, wat haben sie ein wunderschönes Kleid an“. Und hinter vorgehaltener Hand die eben noch lobende Frau Müller dann zur Nachbarin gewandt: „Hast du dat gesehen, wie die alde Schlonz sich wieder angeschustert hat?“ Ja, so war halt das pralle, unverfälschte Leben in der dörflichen Provinz des Niederrheins. Derweil hatte der einzige Nichtkatholik in der Nüßerhött und dem platten Rheinischen unkundige Herr Gessler, den Ostersonntagmorgen dazu benutzt, ebenfalls sein Plumpsklo zu leeren. Dieser Akt war somit die Rache des Karfreitaggeschundenen! 

 

 

7. Ein Haus mit Herz

Verweilen will ich noch etwas beim Plumpsklo, also bei jenem Häuschen mit Herz, das sich bei jeder normalsterblichen Arbeiterfamilie auf dem Hofe befand. Dampfte es aus dem Herzchen heraus, wusste ich, dass einer meiner Brüder eine Selbstgedrehte aus Vaters Tabakbeutel ausprobierte. Das fand natürlich Nachahmer.

Um des Nachts nicht den langen Weg hinab in den Hof zu besagtem Örtchen antreten zu müssen, stand unter jedem Bett der sogenannte „Kamerpott“. Er war schon eine ganz komfortable Einrichtung, dieser Kamerpott. Gut gefüllt war es natürlich recht schwer für uns Kinder, den Pott hochzuhalten beim Pinkeln. Dabei schwappte es schon mal öfters über den Rand, und so manche gelbe Woge ergoss sich über den Bretterboden. 
Immer wenn ich das Örtchen aufsuchte, war der erste Blick hinunter in das dunkle Loch, ob sich dort womöglich gerade eine Ratte aufhalte. Im Winter war es einfacher, da waren die abgelegten Sachen schnell gefroren und somit war kaum eines der dunklen Biester dort zu erwarten. Die Neuß-Grevenbroicher Zeitung war dazu da, sich während der Sitzung zu bilden, um sie dann nach dem Geschäft einer letzten Nutzbarmachung zuzuführen. Später kam auch die Bildzeitung dazu. Dabei hatte die Masse der Druckerschwärze natürlich sichtbare Folgen - und deren Qualität entsprach so ungefähr dem Inhalt des Blattes. Dieses Urteil entsprach natürlich nicht meiner damaligen Ansicht, sondern hat sich erst später herausgebildet – dies nur zur Anmerkung. Wegen der Kälte im froststarren Winter hatte meine Mutter die erwärmende Idee, mir eine Hemdhose zu kaufen. Diese hatte im hinteren Bereich Knöpfe. Somit brauchte ich nur noch eine Hose herunterzuziehen. Als genügsames Kind nahm ich auch dieses Kreuz auf mich. 


                                    

8. Karfreitagswanderungen

Karfreitagnachmittag, nach getaner Arbeit, ging ich stets im Gefolge meiner älteren Brüder und einigen anderer Jugendlicher unserer Straße zum „Hönderkleff“. Ob der Name etwas mit Hühnern zu tun hatte, habe ich nie nachgefragt. Jedenfalls war dieses Hönderkleff ein Baum- und Buschgebiet, welches jenseits der Bahngleise lag, schon fast bei Gubberath. Dort ließ sich wunderbar abenteuerlich spielen. Und vor allen Dingen blühten meine geliebten Veilchen in Massen dort. Auf dem Rückweg wurde dann für gewöhnlich noch an der aufgelassenen Sandkuhle vorbei geschaut. Die alte Lorenbahn zum Transport des Sandes war noch vorhanden. Damit wurden dann Mutproben unternommen. Einige stiegen in die eiserne Lore, andere schoben sie mit Schwung an. Es galt dann so lange wie möglich den Absprung hinauszuzögern, ehe das Vehikel in den Abgrund stürzte. Passiert ist keinem was. Später wurde die Kuhle als offizielle Müllhalde in Gebrauch genommen. Oft kamen wir hier hin, um in den entsorgten Schätzen der Nachkriegshaushalte herumzuwühlen. Beide, also Hönderkleff und Sandgrube, existieren heute nicht mehr, die Autobahn Aachen-Neuss führt darüber hinweg.

 

 

 

9. Jupps verwunschener Garten

Der Muttertag durfte natürlich nicht vergessen werden. Mangels Geldes gab es praktisch nur eine Alternative: Blumen! Und die stammten dann nach überlieferter Art und Weise aus Nachbars Garten. Dieser Nachbar hieß dann stets und zu dessem Verdruss, Vogts Jupp. In seinem Garten blühten die Maiblumen in schönster Pracht; bekannt auch unter dem Namen Flieder. Doch bei uns hießen sie nun mal Maiblumen - ebenso wie der Marienkäfer keine Marienkäfer war, sondern ein Maikäfer. Vogts-Garten lag zwei Gärten weiter rechts von unserem. Doch für Durchschlupf war schon immer vorgesorgt. Und das Anschleichen war auch oft eingeübt worden. Der Jupp war an für sich kein übler Kerl, aber auch kein dummer. Stets war er misstrauisch und auf der Hut. Und listig, wie er nun mal war, tauchte er urplötzlich auf. Dann setzte es Prügel, falls man so blöd war, sich erwischen zu lassen. Einige waren immer blöd. Aber der Jupp hatte ja noch mehr in seinem Garten zu bieten. Und er hatte einen sehr schönen Garten, fast ein wenig verwunschen, fast wie im Märchen. Eine Gartenlaube, von Pflanzen umrankt, barg herrliche Geheimnisse. Zum Spielen geradezu wunderbar geeignet. Dieser Garten bot die ganze Saison über etwas. Neben Flieder im Mai folgten im Juni die hellen Frühkirschen. Im Juli/August dann die dunklen Sommerkirschen. Bei letzteren war schon erhöhte Vorsicht geboten, der Baum stand recht nahe am Haus. So war der günstigste Zeitpunkt abzuwarten, etwa wenn der alte Jupp zum Dorfe unterwegs war. Wein rankte sich über die hintere Hausfassade hoch, doch die Trauben waren etwas sauer. Dafür waren dann bald die Walnüsse soweit. Es waren schon recht fruchtbare und ergiebige Sommer; ehe uns der Winter dann wieder zu einer längeren Pause zwang. Nächstes Jahr werden wir dann beim Jupp wieder als ungebetene Gäste erscheinen. Bestimmt! 
                       

             

10. Von Sachsen und Buttercremetorten

Gäste fanden sich in unserem Haus zu gewissen Anlässen gerne ein. War nicht gerade eine Kinderkommunion, dann war es eine Taufe oder aber die Kirmes. Verwandtschaft kam natürlich gerne zu solchen Anlässen, besonders zu den Festen, wo es keiner Geschenke mitzubringen bedurfte. Wie heißt es so schön in Volkes Munde: „Essen hält Leib und Seele zusammen“. Und was nichts kostet, muss nicht unter allen Umständen auch schlecht sein. Die "Prumetaat" war ja eine bekannte und verbreitete Obsttorte des platten Niederrheins. Des weiteren hatte meine Mutter dann noch den Rollkuchen anzubieten. Dieser große, runde Hefekuchen mit vielen eingebackenen Rosinen, war mein absoluter Lieblingskuchen. Eine ganze Hälfte davon konnte ich schon gut und gerne verdrücken. Im Programm war auch der Kellerkuchen. Eine Kalorienbombe ohnegleichen. In einer ominösen Kakaomasse wurden schichtweise Kekse eingelegt. Dann durfte die dunkelbraune Masse im Keller fest werden. Wohl deshalb auch der Name Kellerkuchen. Kühlschränke waren derzeit nur beim gehobenen Bürgertum bekannt. Mehr als ein paar Scheiben konnte ich vom heruntergekühlten Kellerkuchen aber nicht verdrücken, dann war ich total gesättigt - und übel war mir dann auch. Buttercremtorte, der Stolz aller backenden Hausfrauen, war der Star aller Feste. Ein jeder im Raum hoffte dann darauf, ein Stück vom Guten zu ergattern. Ich persönlich mochte dieses fettige Zeugs nicht besonders. Dafür hatten wir einen Onkel, der war auf Buttercremetorten spezialisiert. Dieser Onkel war des niederrheinischen Sprachschatzes nicht so sehr mächtig. Ein Zugereister würden die Bayern sagen. Tatsächlich stammte er aus der Ostzone. War aber legal herüber gekommen, weil, als er in die Familie der Schmitz´, also der mütterlichen Sippe einheiratete, noch dem großdeutschen Reiche zugehörig war.

„Hat gut geschmeckt“, sagte er nach dem ersten Stück Buttercremetorte in seinem unverwechselbaren sächsischen Dialekt. „Hat gut geschmeckt“, sagte er wesentlich zufriedener nach dem zweiten Stück. Das Gutschmecken wiederholte sich nun in abräumender Folge. Seine zufriedene Miene blieb auch dann noch in seinem Gesicht haften, als das letzte Stück die Platte verlassen hatte. Wer nicht schnell genug war, der hatte nur das Nachsehen. Onkelchen hatte auch schon in diesen frühen Nachkriegsjahren ein Bäuchlein vorzuweisen. Beim Normal-Hungerleider hatten zu dieser Zeit die Hosenträger noch die locker um die Hüfte schlotternde Hose zu halten. Aber böse konnte man dem Zugereisten eigentlich nicht sein. Organisieren ist ja kein Verbrechen. Und auch sonst war er ja nicht übel. Da gab es schon andere Aspiranten. 

 

 

 

11. Erste Erfahrungen

Ich war zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt geboren worden. Der 2. Weltkrieg hatte seinen Höhepunkt bereits überschritten. Vom Krieg begriff ich bei meiner Geburt natürlich noch nichts. Nein, der Grund der ungünstigen Zeit war, dass während der Kriegszeit kaum Kinder geboren wurden. Die Zeugungstätigkeit setzte erst wieder vermehrt ein, als der Krieg endete. Folglich war mein Jahrgang unterrepräsentiert. Die, die als Spielgefährten für mich infrage kamen, waren eigentlich alle zu alt. Da waren die drei Thives Brüder, Görtz Theo, Reipen Willi, meine beiden älteren Brüder, sowie als einzige weibliche Person, Kreuels Marlene. Die Jüngeren mussten erst heranwachsen, wurden erst noch geboren oder zogen später erst hinzu. Der Weisung meiner Mutter an die Älteren bestand darin, auf mich aufzupassen. So machte ich schon eine lebensaufbauende Schulung mit, mit allen Vorteilen, mit allen Nachteilen - nach den Verhaltensmustern der jungen Nachkriegszeit. Erlaubt war ja mittlerweile fast alles. So konnte sich jeder Katholik, ohne gleich in Sünde zu verfallen,  auf die Heiligen Worte des Kölner Kardinals Frings berufen. Kurz - er hatte das Klauen legalisiert! So lernte ich bereitwillig, wie ersteigt man am besten Obstbäume, ohne das man dabei erwischt wird; oder wann ist die beste Zeit, auf den Feldern der Gemüsebauern das Wachstum zu beobachten? Oder auch die vorbeifahrenden Kartoffelfuhren zu inspizieren und dabei den Brotkrumeneffekt auszulösen: Wie findet man mithilfe der Kartoffeln wieder nach Hause? Ganz spannend und abenteuerlich wurde es, wenn unweit auf den Bahngleisen die Kohlenzüge heranschnauften und vor den Signalen ihr Tempo verringerten. Selber durfte ich nicht mit hinauf, dafür aber unten fleißig den Kohlesack füllen. Wie man richtig eine Zigarette aus dem in eigenem Garten angebauten Tabak in Zeitungspapier dreht, wurde auch gelehrt. Die erste Selbsterfahrung hatte noch schlimme Folgen. Das Gummilaken im Bett wurde mir dann auch nicht aus dem Grunde einer Erkältung untergeschoben. Ganze Munitionsketten aus dem vergangenen Krieg wurden auch immer wieder von uns gefunden. Die Spitzen der Geschosse wurden abgesägt und das Pulver zur Füllung von Knallern verwendet. Die selbst gemachten Knaller aus Zündholzköpfen waren da schon eher harmlos zu nennen. Es war halt eine abenteuerliche Zeit! 

 

 

12. Die Belgier kommen!

Eines Tages kam dann doch noch mal der Krieg zu uns zurück. Ganz so schlimm wurde es dann aber wieder nicht: Eine Unmenge Fahrzeuge, beladen mit Soldaten, sorgten für helle Aufregung unter uns Kindern. Hinter den Fahrzeugen hängend, die Kanonen (unser Ausdruck für Geschütze). Danach kamen mit Riesengetöse die Panzer. Alles, was grünfarben war, ob Mann oder Gerät, verteilte sich auf die umliegenden Wiesen und Felder. Zelte wurden aufgebaut und Tarnnetze gespannt. Das war es dann aber auch schon. Der erwartete Krieg verfiel in Untätigkeit. „Das ist ein Manöver“, sagten die Erwachsenen. Die Soldaten kamen aus Belgien. Doch wo war Belgien nur? Natürlich wurden diese Belgier genauestens von uns beobachtet. Als erstens fielen sie über die Obstplantage des Kleinbauern „Vosse Ludwig“ her. Höflich, wie wir nun mal waren, pflückten wir daraufhin das Obst selber, um dem untätigen Feind ein Geschenk zu machen. Natürlich nicht ganz uneigennützig. Konserven mit Brot oder auch Wurst waren der Gegenwert; aber auch Zigaretten. Deswegen mussten dann wieder Gummiunterlagen in meinem Bett eingezogen werden. Nach drei Tagen war der "Krieg" wieder beendet. Das eintönige Leben nahm wieder seinen gewohnten Lauf. 
  

 


13. Landausflüge

Im Herbst, wenn es so richtig stürmte, war Kastanienzeit. Nicht so wichtig waren die Rosskastanien, die zwischen der langen Baumreihe der Bundesstraße 1 Richtung Hahnerhof gesammelt wurden. Einige wurden dazu benutzt, Pfeifen daraus zu schnitzen. Die Weckmannzeit lag ja noch etwas fern, mit der eingebackenen Tonpfeife. Ansonsten hatte das Kastaniensammeln nur den einen Zweck: Wer die meisten hat, der hat gewonnen. Danach lag das Zeugs säckeweise und monatelang zuhause herum und vergammelte und verschimmelte. Wichtiger waren da schon die Esskastanien. Diese gab es aber großflächig nur am Schloss Dyck zu ernten. Der Geografie noch unkundig, lief ich natürlich den Älteren wieder hinterher. Der Weg führte schnurstracks durch die Felder an Herberath und Bissen vorbei, bis wir zu der Rather Mühle gelangten. Dabei galt es, das Dorf Stessen auf gar keinen Fall zu queren. Dieses Nest stand im schlimmen Ruf, alles Fremde mit Steinen zu vertreiben. Also finsteres Mittelalter dort. Diese Barbaren möglichst nur aus der Ferne betrachten, hieß die Devise. Irgendwann wurde dann die „Schlossallee“ erreicht. Geheimnisvoll lag das mächtige Schlossgebäude vor uns. Die schweren Tore waren verriegelt. Nur selten wurde man eines menschlichen Geräuschs gewahr. Doch immer hoffte ich, dass sich mal ein König zeigen würde oder eine Königin - oder noch besser, eine Prinzessin. Doch der Adel ließ sich nicht blicken, und somit auch keine Prinzessin. 
Mit Getöse wurde dann auf der lang gezogenen Allee, die sich vom Schloss bis zum Nikolauskloster hinzog versucht, mittels Ästen die Kastanien herunter zu werfen. Die mitgebrachten Stoffbeutel füllten sich nach und nach. Ab und an bekam man eine Kastanie auf den Kopf, die natürlicherweise noch in ihrer mit spitzen Dornen besetzten Fruchtschale steckte. Am späten Nachmittag schlurften wir dann mit zerstochenen Fingern wieder Richtung Jüchen. In Bontenbroich wurde dann für gewöhnlich noch mal Halt gemacht, um fette Teichmuscheln ausfindig zu machen. Für die nächsten Wochen waren Herdplatte und Backofen ausgebucht. Nun wurde der ganze Kram geröstet und nach endloser Kauerei vertilgt. 

 

 

14. Kampfansage

Straßenkämpfe waren auch hin und wieder angesagt. Diese wurden dann vorher verabredet. Der Feind kam für gewöhnlich aus der Friedhofstraße. Mir persönlich fallen da nur noch die zwei Brüder ein, die nicht so besonders beliebt bei uns waren. Kampfgebiet war unter anderem das Areal zwischen Bahndamm und der großen Baumplantage an der Kölner Straße. Gekloppt wurde sich mit Latten und der Flitsch (Steinschleuder). Wobei die Flitsch natürlich das bessere Streitmittel war, konnte man sich so den Feind doch auf Distanz halten. Für mich tat es eigentlich nur der einzelne Stein, der aus der Hand geworfen wurde. Ansonsten hatte ich mich in Deckung zu halten. Ich wurde meines Alters wegen noch nicht ernst genommen, war ohne Bedeutung.

 

  

 

15. Schnaps und Schinken

Rübenzeit war auch die hohe Zeit für den „Knolli Schabau“. So wurde der selbstgebrannte Rübenschnaps genannt. Schwarzbrennen war bei Strafe verboten. Deshalb wurde der Kessel auch immer schön versteckt gehalten. Doch im Herbst war es dann wieder soweit: Die Anlage wurde aus ihrem Versteck vom Dachboden herunter geholt und in der Küche aufgebaut. Die Gardinen am Küchenfenster wurden eng zugezogen. Der Kessel wurde auf dem Küchenherd kräftig angeheizt. In den gläsernen Spiralen fing es sobald an geheimnisvoll zu blubbern. Hinten, aus einem Röhrchen, tropfte alsbald eine helle Flüssigkeit heraus. Natürlich wollte ich wissen, was da so Geheimnisvolles aus dem Röhrchen fließt? Und zur Befriedigung meiner Neugierde testete ich ausgiebig von dem sonderbar riechenden Zeugs. Erinnern kann ich mich an den Geschmack nicht mehr so genau. Nur soviel: Danach wurde mir recht leicht im Kopf. 

In jener Zeit wurde die Selbstversorgung noch recht groß geschrieben. So hatten wir neben Ackerland (Garten) auch allerlei Nutzvieh. Tiere habe ich immer recht gerne gemocht. Aber schon bald war mir geläufig, dass man Tiere nicht zum Gernehaben hielt. Das Schlachten der Tiere mochte ich allerdings weniger und hatte schon was dagegen, dass man sie endlich tötete. Der frischen Eier wegen einerseits und einer anständigen Suppe anderseits hielten meine Eltern auch eine stattliche Anzahl von Hühnern. In einem Freigehege zwischen Hof und Garten waren sie untergebracht. Dieses Gehege füllte das Gelände in voller Breite aus. Wenn ich dann zum Garten wollte, z. B. der Erdbeeren oder der Himbeeren wegen, musste ich das Gatter des Geheges öffnen, dieses queren, um dann in den Garten zu gelangen. Jedes gute Hühnervolk hat natürlich auch seinen Macho - also der Hahn. Voller Stolz quoll sein Kamm in leuchtend roter Farbe, ebenso brillierte das Federkleid. Nun mochte ich zwar Tiere sehr, doch anderseits hatte ich auch einen nicht geringen Spaß dabei, diese zu necken und dazu gerne etwas mit dem Stöckchen rumfuchteln. Der Hahn verstand aber meinen Humor völlig falsch - und das nahm er mir dann auch sehr übel. Betrat ich nun dessen Hühnerreich, stürzte er wie von der Hummel gestochen auf mich zu und bearbeitete mich mit seinem Schnabel derart, dass ich überall blutete. Triumphierend stand er sogar einmal auf mich. Und fortan ließ ihn sein Gedächtnis nicht mehr im Stich. Da stand ich nun völlig auf verlorenem Posten. Nur noch in schützender Begleitung kam ich in den Garten, um mich an den Früchten satt essen zu können. Doch eines Tages war es so weit: Mein Vater hatte das Todesurteil ausgesprochen. Vielleicht war Kinderkommunion oder sonst was Festliches, ich weiß nicht mehr - und da sollte ja was Anständiges auf den Tisch. Mir fiel der berühmte Stein vom Herzen. Erstmals geschah es mit meiner vollen Zustimmung, dass dieser Unhold nun auf dem Holzbock landete.

 
Im Stall, auf einem kleinen vergitterten Areal, stand stets ein grunzendes Schwein. Doch ein armes Schwein war es schon, es dauerte mich. Immer im Dunkel des Stalles zu harren und keinen Sonnenstrahl zu sehen, das war schon ein hartes Schweinelos. Trotz allem schlurfte es brav Tag für Tag den eigens angesetzten Schweinepott mit den Köstlichkeiten von zermatschten Kartoffelschalen, Rüben und sonstigen Fettmachern mit Genuss in seinen Rachen. Der Sinn dieses Gemüseragouts, die Sau sollte möglichst schnell fett und schwer werden, mit mindestens einer Handbreit Speck über den Rippen. 
An einem der Herbsttage war es dann so weit: Heißes Wasser in allen erreichbaren Kesseln wurde angeheizt. Die Zinkbadewanne, worin samstäglich jedes Familienmitglied sein Bad in der Waschküche nahm, wurde mit heißem Wasser aufgefüllt. Ein fremder Mann erschien auf dem Hof. Sodann hieß es, „der Metzger ist da“. Alle verhielten sich nun recht still und es wurde geschaut, dass kein Nachbar zuschaute. Denn was nun folgte, hieß zu der Zeit Schwarzschlachten. Was das genau hieß, wusste ich zwar auch nicht, doch sollte die Ausführung dieser verbotenen Schlachtung möglichst heimlich vonstatten gehen. Besonders in Acht zu nehme hatte man sich vor solchen Nachbarn, die während der 12jährigen Dauer des Tausendjährigen Reichs aufs heftigste den Arm emporgeschwungen hatten... und nach dessen Ende wiederum aufs heftigste weiße Bettlaken geschwungen hatten. Der Mann, der Metzger hieß, holte seine Utensilien vom Fahrrad. Stricke, Haken, eine Menge langer Messer, sowie ein komisch aussehendes Eisen. In diesem steckte er dann ein patronenförmiges Etwas. Dann wurde das Schwein mit vereinten Kräften aus dem Stall gezogen und geschoben; und es stieß dabei jämmerliche Schreie aus. Diese gingen mir schon schaurig durch Mark und Bein. Das Schwein war sich seines nahenden Endes wohl bewusst. Ich verdrückte mich schnell hinter der Flurtür und wartete den letzten Schrei ab. Dann ging alles ganz schnell und es hob ein emsiges Treiben an. Ein Stich des Metzgers in die Kehle des Schweins förderte einen starken Blutschwall. Rasch wurde ein Eimer untergehalten, der sich schnell mit roter Flüssigkeit füllte. Noch zuckte das arme Schwein wie wild. Nun wurde es mit heißem Wasser übergossen und mit einem blechernen Schaber die Borsten weggeschrubbt. Lag das Schwein dann endlich schön sauber und rosig anzuschauen danieder, wurde es auf einer Leiter gepackt, an den Sehnen der Füße Haken eingerammt, um dann aufrecht hängend an die Mauer gestellt zu werden. Das lange Schlachtermesser wurde geschärft, und schon gab es einen langen Schnitt von oben nach unten durch den Leib des Schweins. Heraus quoll in enormer Fülle das Gedärm. Die Fäkalien in den Därmen wurden herausgedrückt. Diese wurden dann in Lauge gereinigt. Ich wurde aufgeklärt, dass sie noch gebraucht würden, und zwar zur Aufnahme der Wurst. Das war mir nun doch zuviel. Ich soll das essen, worin vorher die Scheiße des Schweins war? Doch schon ging es weiter: Leber raus, Herz raus, Magen raus. Die Augen wurden ausgeschnitten und glotzten mich nun vom Ziegelsteinboden aus an. So groß sind Augen? Diese barbarische Schlachterei war schon eine Anatomieschau allererster Güte. Bald waren von dem ehemaligen Schwein nur noch viele einzelne Stücke vorhanden. Und natürlich die Schweinsblase! Darauf war ein jedes Kind besonders scharf. Zauberte sie doch im getrockneten Zustand und aufgeblasen einen herrlichen Spielball. 

Am nächsten Morgen ginge es weiter. Die Gardinen der Fenster wurden dicht gezogen, alles war wieder sehr geheim. Der Metzger brachte neue Geräte mit; und dann ging es wieder los. Aus einem großen Haufen Fleischmatsche, die aus einer Maschine quoll, wurden nach und nach viele schöne Mettwürste gezogen. Diese wurden auf langen Stangen aneinandergereiht. Desgleichen wurden Leberwürste und Blutwürste gefertigt. Diese wurden im oberen Teil des Hauses in einer leerstehenden Kammer auf Stühlen zum Trocknen aufgereiht. Die dicken Schinken schaffte man in den Keller, wo ein großer Holzbottich stand. Dorthinein wurden die Schinken unter viel Salz und weißen Bettlaken versenkt. 
Aus den allerletzten Resten der Wursterei wurde dann der Panhas geköchelt. Des Morgens gab es ihn dann zum Frühstück. In der Pfanne gebraten, auf mit Rübenkraut beschmiertes Schwarzbrot gelegt, war solcherart Frühstück für mich immer ein Festschmaus. War alle Arbeit geschafft, wurde der Metzger für seine Arbeit mit Naturalien in Form von Fleisch- und Wurstpaketen entlohnt. Anschließend gab es dann ein Festmahl: Schweinemett auf frischen Brötchen und das herrliche Filetstück des Schweins als Braten. Das alles schmeckte so wunderbar gut, dass mir der Geschmack noch heute auf der Zunge haftet. Ja, so ein Schlachttag war wie Weihnachten, Ostern und Kirmes zugleich. Die Ernährung für die kommenden Wintertage war nun zu einem guten Teil abgesichert. Doch jetzt hieß es noch Geduld aufbringen, bis der Schinken gereift war. Mit dem Abwarten hatte ich so meine liebe Not. Immer wieder schlich ich mich mit dem Wustmesser bewaffnet in die Kammer, wo er zum Trocknen hingekommen war, um dann zu probieren, ob der köstliche Salzschinken schon genießbar sei. Und ich testete oft!


Tiere hatten wir eigentlich immer. So erinnere ich mich ein wenig undeutlich an ein Zicklein. Dieses Zicklein hatte ich schon in mein Herz geschlossen. Ich weiß aber nur noch soviel, dass das liebe Tierchen eines Tages aus dem Stall verschwunden war. Tage danach kam dann so seltsam schmeckendes Fleisch auf den Tisch. 
Kaninchen waren sowieso immer da. Es war die natürliche Aufgabe uns Kinder, diese zu versorgen. So wurde in den Wiesen fleißig Ketteschtrüsch (Löwenzahn) gesammelt. Wenn dann wieder mal ein Fell an der Stallwand hing, wussten wir, Sonntag kommt Kaninchen auf dem Tisch. 
So lernte ich schon recht früh, dass man Tiere nicht nur einfach gern hat, sondern vor allem zum Fressen gern. 

 

 

 

16. Sommerzeit

War der Monat Mai fortgeschritten, vielleicht auch schon Juni – für uns gab es ja nur Sommer und Winter – wurden endlich die Schuhe ausgezogen. Fortan verliefen die Sommertage barfuß. Anfänglich taten die Füße noch etwas weh. Doch das legte sich bald mit Zunahme einer dicken Hornschicht unter den Sohlen. Zu der Zeit waren die weißen Bettlacken immer grün und schwarz angefärbt. Wer hatte schon Lust, sich jeden Abend gründlich zu waschen. Bald stand das Gras beim Schauter und in Bresser Alberts Wiesen hüfthoch und höher. Darin konnte man sich herrlich verstecken und viele lange Gänge durch die Viehweiden ziehen. Was die Bauer natürlich nicht gerne sahen, machten wir doch so das ganze schöne Gras platt. Der alte Schauter schickte dann gerne seinen Sohn vorbei. Er sollte nach dem Rechten schauen und uns möglichst auch eine „Abreibung“ besorgen. Doch das Problem hielt sich in Grenzen, weil der junge Schauten einfach zu langsam war.

War Mangel an Jungen-Gesellschaft, lehrte mich Kreuels Marlene - derzeit das einzige größere weibliche Wesen auf unserer Straße - wie man Kränze aus Wiesenblumen flechte. Diese trug ich dann stolz auf meinen Kopf. Wenn ich auch im Nachhinein denke, dass ich damit wie ein Pfingstochse aussah.

Die Zeit schritt fort, nun stand das Getreide hoch. Getreide war die Domäne des Bauern Bresser. Auf seinen Feldern ließ es sich von nun an wunderbar Verstecken spielen. Erwischt hat er uns nie, Gott sei Dank! Schwarz von Staub und Dreck trudelten wir abends zu Hause ein. Sehr zur Unfreude unserer Mutter. Zu Besänftigung bekam sie dafür einen großen Strauß mit leuchtend roten Mohnblumen und himmelblauen Kornblumen. Diese wuchsen damals noch in üppiger Menge auf den Getreidefeldern. Diesen gaben sie ein malerisches Aussehen. Eines Sommertages war es dann soweit: Mit viel Geschwätz machte sich eine Menge Frauen und Männer daran, mit ihren großen Sensen die Halme abzumähen. Überall standen dann die mannshohen Büschel herum, zum Trocknen. Nun hatten wir wieder neue Versteckmöglichkeiten; und es machte uns  ausgesprochen Spaß, die Büschel reihenweise flach zu legen. Lange dauerte es nicht, und es kam eine riesige Maschine angefahren. Dazu eine Dampfmaschine. Zwischen beiden wurde ein langer und breiter Transmissionsriemen gespannt. Dann ging es los! Mit großem Gerassel und Getöse setzte sich das Ungeheuer in Bewegung. Wie ein urzeitlicher Saurier fraß das Biest unaufhörlich das Getreide in sich hinein. Fasziniert stand ich stundenlang davor, um dieses archaische Schauspiel zu verfolgen. War die Arbeit der Dreschmaschine vollbracht, wurden emsig die Reste gesammelt. Mit Hosentaschen voller Körner ging es nach Hause. War genügend angesammelt, wurde Bäcker Peters in der Kölner Straße aufgesucht. Tage danach duften wir uns dann ein frisches Brot abholen. Das alles war in den 40er Jahren noch gang und gebe. 

 

  

17. Straßengeschäfte

Der Grates kommt, hieß es zweimal die Woche. Grates war der Gemüse- und Früchteverkäufer. Mit seiner großen Schelle machte er auch die letzten Bewohner auf sich aufmerksam, die sich dann um sein dreirädriges Stinkmobil sammelten. Wir Kinder wollten natürlich Früchte: Banane, Apfelsine oder doch lieber Zitrone, stellte sich dann für mich die Frage? Meist war es die Zitrone. Deshalb, weil sich daraus mit Wasser und Zucker vermischt Zitronenlimonade machen ließ. Oder ich saugte und leckte stundenlang an der Frucht. So gesehen habe ich schon rational gedacht, von welcher Frucht würde ich am längsten Genuss haben? Ansonsten war der Grates ein Kerl ohne viel Charme. 
Viel mehr davon besaß Steffens "Schäng“, der Milchmann. Mit Getöse fuhr sein weißer Karren vor, gezogen von einem schnaufenden, grauweißen Gaul. Mit den Frauen verstand sich der "Schäng" recht gut. Immer hatte er ein paar nette Späßchen auf Lager. Wir Kinder hingegen hielten ihn für etwas bekloppt, wie man sich halt so ausdrückt. Heute denke ich, dass sich hinter seiner Lustigkeit viele persönliche Probleme versteckten. Jedenfalls, in einem unbeobachteten Augenblick, wenn der Schäng in einem Hauseingang verschwunden war, ging es flink auf den Bock; die Bremsklötze zurückgedreht, die Zügel gespannt und dann „Ella hopp“ – „Ella hopp“. Und Ella machte hopp und sauste wild los. Schäng rannte dann fluchend und wild gestikulierend hinter uns her. Wobei ihm dann mehr Schaum vor dem Mund stand, als bei seinem Gaul. Die Notbremsung war dann schon mal der Weidenzaun. Dort rüber wurde dann eiligst das Weite gesucht. 


In den frühen Jahren waren die Groschen recht knapp. So bemerkte ich bei meinem Bruder, dass er Kupferdrähte verkaufte, die er an den Zäunen abgeknipst hatte. Dafür gab es Bares. Das habe ich mir gemerkt, und fortan ging ich nicht mehr ohne Kneifzange los. Ich orientierte mich dabei an die grün schimmernde Farbe auf den Drähten. War das der Fall, konnte ich sicher sein, dass ich auf Kupfer gestoßen war. Zunächst nahm ich mir Bauer „Köppels“ Wiese vor. Richtig hieß er wohl Klein, doch alle nannten ihn Köppel. Keine Ahnung warum? Dieser Köppel war der einzige Bauer, den ich mit Anzug und Weste hinter seinen Pferden herlaufen sah, und so auch die  Äcker pflügte. In dieser Montur saß er auch auf seinem Traktor. Nur mit der Schuhpflege hatte er es nicht so dringend. Stets stand er des Sonntags in der Kirche mit einer dicken Schicht Ackerkrume an den Sohlen. Als dessen Zäune nichts mehr hergaben, machte ich bei Bressers Wiese weiter. Und dann bei Schautens Wiese. Die hatte aber das wenigste Edelmetall zu bieten. Als auch dort nichts mehr zu holen war, untersuchte ich noch die Gartenzäune; sowohl der eigene als auch die der Nachbarn. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen kam Deweths Karl vorbei. Er war der Lumpenmann unserer Region und kam aus Schaan. Sein alter Klappergaul zog eine ebenso alte Karre, voll beladen mit Alteisen und sonstigem Verwertbaren. Stets trug Karl eine Weste, und über den Hosenbeinen waren schwarze Ledergamaschen. Im Ganzen gesehen erinnerte mich sein Aussehen an die Märchenfigur Rumpelstilzchen. Auf dem Bock sitzend, seine Frau. Eine Wolldecke um die Beine gehüllt und auf dem Kopf eine Häkelmütze. Die beiden waren aber nicht übel. Ausbezahlt auf die Hand wurde immer, auch für mein Kupfer. Beschummelt hat er uns nicht. Sagen wir so: vielleicht ein bisschen, manchmal vielleicht auch etwas mehr. Das dicke Geschäft machte er nämlich selbst. 


 

  

18. Der Müllmann kommt

Zu jener Zeit lag die Müllabfuhr in der Hand vom Effertz. Er kam ebenfalls mit einer Pferdekarre an. Darauf lud er die Ascheneimer aus. Genormte Mülleimer gab es noch nicht. Und was sollte schon mehr als Asche in den Tonnen landen? Es gab nichts, was weggeworfen werden musste, als eben die Asche, die aus den Küchenherden und Zimmeröfen stammte. Wenn es dann recht ordentlich windig war, flog die Asche schneller vom Wagen runter, als sie aufgeladen werden konnte. Auf dieser Weise war die Asche abgeholt worden und das Entsorgen in der Müllgrube hatte sich somit erledigt. Der Effertz Hein war aber nicht nur Müllmann, er war auch mein Onkel. Weil das so war, durfte ich ab und an mit auf den Bock und dabei auch schon mal die Zügel in die Hand nehmen. Er ermahnte mich manchmal: „Wenn du nicht ordentlich die Zügel hältst, stopp ich dich in die Pädsfott“. Auf gut Deutsch heißt das etwa: In den Pferdehintern reinschieben. 


 

 

19. Die liebe Nachbarschaft

 Zwischen Haus und Straße stank es je nach Wetterlage recht gewaltig. Kanalisation war bei uns noch etwas Fremdes. Drei Meter vor der Haustür schlängelte sich eine Rinne hin, die bei Thives in den Bach mündete. In dieser Schmutzrinne sammelte sich nicht nur das Wasser der Regenrohre, sondern es wurde auch das tägliche Waschwasser, das samstägliche Badewasser und auch das Spülwasser hineingekippt. Manchmal fanden sich auch andere Entsorgungen darin. Doch das nur am Rande. 
Eben dort, an den heißen Sommerabenden, wenn die Sonne sich so langsam hinter dem Jüchener Kirchturm verdrückte, dem katholischen wohlgemerkt, wurden Hocker, Stuhl und Bank hervorgeholt und vor die Hauseingänge gestellt. Wo die meisten saßen, kamen nach und nach noch mehr hinzu. Und bald hatte sich ein schwatzender Haufen zusammengefunden. Fernsehen kannte man noch nicht. Also wurden die Nachrichten auf der Straße ausgetauscht. Im fortschreitenden Abend nahm das Auftischen von Erlebnissen an Umfang oft dramatisch zu. Es war dann die Stunde, bei der man für gewöhnlich beim 1. Weltkrieg anlangte. Den hatten einige ja noch in aktiver Form in Erinnerung. So recht ordentlich lügen konnte da der „Hendrisch“ (Heinrich Kreuels). Aber viel besser noch war der Vogts Jupp. Die Abende wurden zu Dramen. Die Geschichte Deutschlands musste neu geschrieben werden. „Jondaar“ (Gundula), die alte Frau Jung, lag stets im oberen Fenster und grinste sich den lieben langen Abend einen über die roten Bäckchen. „Görtz Lisabeth“ ließ sich dann auch noch blicken. Standardkommentar: „Ist das wahr?“ Der alte Schmitz steckte sich ein neues Stück Kautabak zwischen die restlichen Zähne und kaute darauf so herum, dass der weißgraue Schnäuzer nur so wackelte. Seine Tochter, „dat Schmitze Billa“, nahm dann schon mal wieder den Reisigbesen in die Hand und fegte die leere Fläche vor dem Haus. Fegen, so glaube ich, war ihre Lieblingsbeschäftigung. Was tut eine Jungfrau auch sonst lieber? Wenn dann "Bärb" (Barbara), die Frau vom Hendrisch, immer öfters wie eine Schildkröte den Kopf aus der Tür streckte und vorwurfsvoll zu ihrem Heinrich schaute, wusste man, nun ist bald Tagesschluss. 
Manchmal gab es auch mal richtig Streit unter den Nachbarn. So wie das in jeder guten Familie vorkommt,  so war das auch in der Hött. Mal hatte dieser eine große Lippe riskiert, mal war es ein anderer. Der Ausdruck „Arschloch“, war ein geläufiges Wort der niederrheinischen Ausdrucksweise; aber noch weit davon entfernt, ein direktes Schimpfwort zu sein. Unter Anwälten gab es derzeit noch keine Inflation und die Richter beschäftigten sich noch mit „anständigen“ Sachen. Und meist war es dann auch so, dass nach einer Woche wieder miteinander geredet werden konnte. Selten haderte man länger. 
Frauen hatten im Gegensatz zum benannten „Arschloch“, eine oft recht eigenwillige Darstellung vom nachbarschaftlichen Straßenkampf. Bei unseren Damen in der Hött etwa gab es welche, die sagten immer „Huch“! Und „Huch“ bedeutete, dass sie dann den unwiderstehlichen Drang verspürten, ihre Röcke lupfen zu müssen. Ihre ausladenden Hinterfronten wurden in aller Deutlichkeit und reihum für jeden sichtbar vorgezeigt. Die Auswahl der dabei gelupften Damenwäsche war entweder durch vergilbtes oder angegrautes Weiß oder aber auch durch ein Rosarot begrenzt. So machte ich auch auf diesem Gebiet meine ersten erotischen Erfahrungen - visuell gesehen. Das Wort Reizwäsche war in seiner Bedeutung ganz sicher noch ein Fremdwort für mich. Doch ich ahnte bereits, dass diese wollenen, sackähnlichen Hosen, noch nicht das letzte der weiblichen Geheimnisse sein würden. 
Als der Neckermannkatalog erschien, wurden solcherart Nöte gemildert. Die Hausfrau konnte sich nun orientieren, was man künftig unter den Kleidern zu tragen hatte - und  selber war ich nicht mehr so sehr desorientiert. 


In der Frühe des Tages, meist im Sommer, wenn die Fenster weit offen standen und die Spatzen in erheblicher Anzahl auf den Dächern schilpten, war es schon eine friedliche Welt in unserer Straße. Wenn ich mich dann noch schlaftrunken meinen letzten Träumen hingab, hieb draußen ein Gesang an. Görtz Gertrud von nebenan versüßte sich dann zu ihrer Andacht im Besonderen und zu meinem Erwachen im Weiteren die Hausarbeit. Mit unverwechselbarem und ergreifendem Gesang erschallte aus ihrem Munde die Hitparade der frommen Weisen - entnommen aus dem gesanglichen Buch der Kirche. Diese erbauliche Harmonie wurde dann nicht selten jäh gestört. Zu eben noch vernommenem Lobgesang Gottes mischten sich plötzlich Worte der Disharmonie hinzu. Heftige Flüche und Gepolter im übernächsten Hof wurden hörbar und ließen mich eiligst die Bettdecke zur Seite schmeißen. Das war so: Einer unserer Nachbarn besaß eine Zündapp. Nicht die größte dieser Motorradmarke, sondern wohl eher die Schwächste - und auch schon ein bisschen bejahrt. Das schon bekannte Ritual lief dann so ab oder zumindest dem Sinne entsprechend ähnlich: „Du dreckige Sau, ich mach’ dich fertig. Rootttottottttot ... nix. Rotttootot ... wieder nix. Und bums, setzte es Fußtritte. „Du alte dreckige Mistkarre, ich schmeiß dich auf den Schrott“. Und ein weiterer Fußtritt beförderte das Motorrädchen in die hinterste Hofecke. Doch irgendwie und irgendwann hat es immer wieder geklappt Und stolz wie sonst wer tuckerte der Meistermechaniker von dannen. Bis dann an einem der folgenden Tage das Zündapp-Schauspiel in die nächste Runde ging. Der Wortschatz blieb dabei der gleiche, wenn auch nicht immer in derselben Reihenfolge. Doch das war bei Görtz Gertruds frommer Hitparade auch nicht anders.  

 

  

 

20. Sommersonntagmorgen und Götterspeise

War es ein schöner, warmer Sommersonntagmorgen, schnallte mein Vater das Holzbein an und nahm den Krückstock. Dann wusste ich: Gemeinsam geht es durch die Felder. Diese Art Spaziergänge unternahm ich sehr gerne. Ein Stück weiter, Richtung Gierath, bogen wir ab. Wir unterquerten die Bahngleise durch den so genannten „Kleinen Bogen“. Jenseits verlief der Feldweg parallel zu der Bahntrasse weiter. Die Lerchen trällerten am hohen Himmel und in den Brombeersträuchern summten die Bienen. Die Telegrafenmasten brummten ihr Lied. Es hörte sich an, wie fernes Raunen. Meine Gedanken zogen mit in die Ferne und versuchten zu erahnen, was kommt, wenn man immer weiter geht. Meist war die Ferne jedoch am sogenannten „Großen Bogen“ wieder vorbei. Großer Bogen hieß er deshalb, weil er größer und höher war, als der „Kleine Bogen“ und der Weg ging über die Bahn, statt unten durch. Mein Vater interessierte im Allgemeinen das, was auf den Feldern wuchs - was vielerlei Gründe haben mochte. Ich schaute eher auf das, was die Bahngleise so mit sich führten. Viel war es nicht. Mal eine Flasche, mal die Reste einer Zeitung oder auch eher Undefinierbares. Damals hatten die Züge noch keine Auffangbehälter in den Toiletten eingebaut, sondern alles suchte schnurstracks den Weg nach draußen. Kam einer der wenigen Züge angedonnert, wurde der ganze Scheißdreck aufgewirbelt. Doch irgendwie verblieb immer nur eine stille Sehnsucht in mir, wenn ich die Schlusslichter in der Ferne verschwinden sah. Zurück blieb nur das Raunen der Telegrafenmasten. Fernweh war bei mir schon als Kind eine wenig gestillte Sehnsucht. Wenn man auf dem „Großen Bogen“ stand und sich recht hoch reckte und zudem klares Wetter vorherrschte, sollte der Kölner Dom sichtig werden, sagte man. Ich reckte mich bei allen Wetterlagen hoch, sooft ich da war, doch gesehen habe ich ihn nie. Eines Tages werde ich davor stehen, sagte ich mir immer wieder. Im verrinnenden Morgen hörten wir dann das helle Geläut der evangelischen Kirche von Jüchen durch die flirrende Luft klingen. Dieses „evangelische Geläut“, war dann das Zeichen zur Umkehr. Die Evangelischen läuteten bereits um 11.00 Uhr ihre Glocke. Fast stereoform erklang dann eine Stunde später der satte Klang der katholischen Kirche im Wettstreit mit dem bescheidener klingenden, herüberwehenden Geläute der Gierather Kirche. Nun würde es bald Mittagessen geben und wir machten uns sodann umgehend auf den Heimweg. 
Eines Sonntags, nach unserer Rückkehr, ich habe es nie vergessen, stand etwas völlig Neues auf dem Tisch: Götterspeise! So nannte unsere Mutter die Speise. Grün leuchtete der Genuss, der nun darauf wartete, vertilgt zu werden. Einzelne Sonnenstrahlen brachen sich in der Glasschüssel und ließen diesen Pudding, der so schön wackelte, in den grünsten Grüntönen aufleuchten. Ein Schuss Vanillesoße wurde noch darüber gegossen, dann konnte die Speise der Götter endlich verschlungen werden. Das war nun die Götterspeise mit Waldmeistergeschmack. Ein andermal gab es dann Rubinrote, die hatte  Kirschgeschmack. 

 

 

 

21. Der Bauchladen

So alle paar Wochen stand ein komischer Kauz auf Krücken vor der Haustür. (Zur Anmerkung: damals war es so, dass die Hausierer sogleich durch die Hintertüre der Häuser eintraten. So umgingen sie einfach lästige Begrüßungen und standen urplötzlich in der Küche) „Schnell“, räusperte sich die Mutter: „sagt, dass ich nicht da sei“. Zu spät! Schon stand er in der Küche und raspelte in unheimlicher Schnelligkeit sein auswendig gelerntes Sprüchlein herunter. Irgendwie wurden von mir auch ein paar Wortfetzen aufgefangen, die dann nach Schnürsenkel klangen oder Schuhcreme, oder auch nach Gummiband und Seife oder Druckknöpfe. Und das soll alles in diesem nach einem Bauchladen aussehenden Gestell drinstecken, fragte ich mich? Es waren doch mindestens, wenn nicht noch viel mehr, gut und gerne an die fünfzig Sachen, die er ohne Atem zu holen in seiner unverwechselbaren monotonen Art ableierte. Bei soviel bedrängender Werbung blieb meiner Mutter wie immer nichts anders übrig, als eine Kleinigkeit vom Unnützen zu kaufen. Und wehe, es wurde nichts gekauft. Der Blick, der dann folgte, wirkte wie die ewige Hölle. In 3 - 4 Wochen würde er wieder nerven. Andere Bauchhändler machten es ebenso.

               

 

 

22. Das Psychohaus

Die Witwe Weyermanns mit ihren drei Söhnen wohnte schon fast jenseits der begreifbaren Welt. Das große Haus wurde noch so gerade hinter einzelnen Bäumen sichtbar (treffend hätte dort der spätere Hitchcockfilm „Psycho“ gedreht werden können). Die Weyermanns hatten einen riesigen Obstbaumgarten – und das war schon mal sehr gut gut. Und die alte Dame war oft außer Haus – das war schon mal sehr gut. Und so ließ es sich dort abenteuerlich gut leben. Da wurde mal gekocht, da wurde mal gebraten oder auch einfach nur die Taschen voller Obst gesteckt. Weil ich der Kleinste war, war ich dabei nur mal wieder der Mitläufer. Gerne buddelten wir in der Erde. Bunker zu bauen war derzeit „in“. Der Feind war immer in der Nähe. Wenn auch nur zu oft in der Fantasie. Nach Fertigstellung eines Bunkers standen dann sogleich schon wieder neue Baupläne zur Debatte. Ein neuer hatte aber größer zu sein, als der letzte. Einmal hatten wir einen ausgehoben, der die Ausmaße eines mittleren Zimmers hatte. Natürlich musste eine Abdeckung rauf, damit er für den erwarteten Feind unsichtbar sei. So wurde alles an Ästen, Zweigen und Brettern herangeholt, was irgendwie als brauchbar und hilfreich erschien. Gegen Abend des zweiten Tages war es geschafft. Eine dicke Erdschicht bedeckte zur Tarnung den Bunker. Ein versteckter Eingang war ebenso angelegt. Im Inneren wurde dann Richtfest gefeiert. Oft gab es gebackene Eier. Hühner gab es in nicht endender Menge bei Weyermanns. Als wir nächsten Morgens unsere Festung wieder beziehen wollten, war sie weg. Einfach so unter der Last der Deckenverbauung zusammengebrochen. Es war unser Glück, dass dies des Nachts geschah. 

 

 

                    

23. Gehres Pitter

Gehrer hieß eine Familie aus der Friedhofstraße. Ein Abkömmling derer war der Pitter, einer der Söhne des alten Ignaz Gehrer. Pitter hatte eine nicht unwesentliche Ähnlichkeit mit dem später aus einem Märchenfilm bekannten Räuber Hotzenplotz. „Der ist bekloppt“, sagte man gemeinhin. Und tatsächlich war der Pitter auch der selbstredende Beweis dafür. Das bewies er uns, indem er in schöner Regelmäßigkeit die Neusserstraße aufsuchte. Etwa hundert Meter vor dem ersten Haus beginnend dröhnte seine Stimme bereits bis in unsere Wohnküche hinein. Gehres Pitter kommt, wussten wir dann. Alle gingen zum Fenster und zur Tür, um sich seine völlig eigenwillige Philosophie anzuhören. Und für jeden der im Fenster lag und für jeden der in der Türe stand hatte der Pitter lautstark etwas mitzuteilen. Je nach Anzahl der Zuschauer und je nach Fragestellung konnte schon mal eine knappe Stunde vergehen, bis der Pitter die Front abgeschritten hatte. Wenn keiner Fragen hatte, war es nach etwa einer viertel Stunde geschafft. Fünfzig Meter hinter Thives Haus verhallten die Selbstgespräche dann so nach und nach. Wenn Pitter dann mit beladener Karre nach Stunden zurückkam, folgte erneut ein lautstarkes Lamento, als x-te Wiederholung. So bekloppt der Pitter auch wirkte, war er dann wohl doch nicht, hatte er doch immer ein großes Taschentuch mit, dass er als Beutel gebunden in der Hosentasche trug und voller Münzen war. 

  

 

                           

24. Badezeit und grüne Hosen

Sommerzeit, Badezeit! So modern war Jüchen schon, dass es ein Schwimmbad sein eigen nannte. Hinter Schwartz & Klein, zwischen Sportplatz und Bahndamm, war es auf einer Anhöhe erbaut. Zunächst gab ein ausrangierter Busanhänger noch das Kassenhäuschen her. Wer da Eintritt bezahlte, war natürlich etwas blöd. Unsagbare 20 Pfennig wollte man für den Badespaß haben. So kamen wir gleich von Hause aus mit der Badehose bekleidet an. Über die Liegewiese eintretend, war der Eingang. So fielen wir nicht weiter auf im Gedränge, denn es kamen bei schönem Wetter recht viele. Neben der Jüchener Bevölkerung war auch die der Gierather, Gubberather, Priesterather als auch die der Garzweiler, Kelzenberger und andere mehr zu ertragen. Auf dem Dreimeterbrett stehend, mit eingezogenem Bauch, die Jüchener Machos natürlich. Na ja, im Stillen hoffte man  schon, später dort auch mal zu stehen, um sich beim weiblichen Volk nachhaltigen Eindruck zu verschaffen. Umwälzanlagen oder sonstige Reinigungseinrichtungen (was war das?) gab es natürlich nicht. Nach Jüchener Farbenlehre hieß das in etwa so: Wenn das Wasser dunkelgrün ist, wird es abgelassen. Basta! Soweit überhaupt kein Problem. Zunächst war das Wasser ja noch frisch und klar - aber saukalt. Etliche Sonnentage waren schon nötig, ehe man sich einigermaßen wohlfühlen konnte. Nach einem heißen Wochenende mit etlichen Badelustigen bemerkte man aber bereits erhebliche Trübungen. Nach einer weiteren Woche machte es schon keine Mühe mehr, unter Wasser Verstecken zu spielen. Nun war es ja so, wer wollte schon unbedingt eine der wenigen Toilette aufsuchen, das war doch viel zu umständlich. Und das samstägliche Bad zu Hause erübrigte sich doch auch, nach so einem ganztägigen Schwimmbadbesuch. Des Weiteren - aber überhaupt nicht ungewöhnlich - war, dass der eine und der andere überhaupt keine Badehose besaß. Somit wurde dessen strapazierend lang getragene Unterhose in einem Aufwasch mit gewaschen. Mit den Wochen, wenn die Badehosen nach und nach eine gewisse Grünfärbung angenommen hatten, waltete der Bademeister seines Amtes und drehte das Auslaufventil auf. Die Brühe lief dann durch die Bresser-Wiese hindurch Richtung Jüchener Bach. Diese Gegebenheit nutzten wir dann so, dass wir uns der nun folgenden Zwangspause, noch weitere zwei Tage im Restwasser suhlen konnten. 
Mit Erstaunen denke ich heute darüber nach, wie das alles unbeschadet überstanden wurde. Ein unmittelbarer Todesfall ist mir jedenfalls nicht bekannt. Aber das soll es im Ganges ja auch nicht geben. Vielleicht war die Badebrühe auch ähnlich der Ursuppe allen Lebens aufgebaut. Wer weiß das schon? 

 

 


 25. Der große Strom

Alles sprach vom Rhein. Wenn getrunken wurde, wurde er besungen. Und wenn bei Schwartz & Klein Betriebsausflug gemeldet war, ging es per Sambazug zum Rhein. Nur ich, ich hatte diesen sagenhaften Fluss noch nie eigenen Auges gesehen. Doch dann war es endlich soweit. Bald war meine Einschulung, und da sollte ich schon einen neuen Anzug erhalten. Dafür ging es per Zug nach Düsseldorf zum C&A Kaufhaus. Ungeduldig sprang ich von einem Fenster zum anderen. „Wann kommt den der Rhein endlich?“ Ein Fluss kam in Sicht. Die Erft sei es nur, wurde ich beruhigt. Die Ungeduld steigerte sich hin zum Unerträglichen. Dann war es soweit: Der Zug ratterte über eine riesige Brücke, und wir fuhren mitten über diesen großen, gewaltigen Rhein. Wasser flossen in riesigen Mengen dahin, deren Ausmaße ich nie gesehen bisher. Flussauf und flussab schwammen die vielen großen Schiffe. Es war kaum zu fassen, meine Aufnahmefähigkeit war an ihrer absoluten Grenze gestoßen. Dieses Bild habe ich bis heute verinnerlicht.

 



 26. Wald, Berge und das Sauerland

Ähnlich erging es mir mit Wald. Unser „Wald“ stand in einer der Bresser-Wiesen, Richtung Weyermanns. Die Anzahl der Bäume weiß ich nicht mehr, doch so zehn-zwölf mögen es schon gewesen sein. Dort hielten wir uns sehr oft auf und waren sogar in Rufweite der Eltern - wenn wir sie denn hören wollten. Einige der Bäume waren leicht zu nehmen, andere wurden mit Hilfe einer Menge Nägel gefügsam und damit besteigbar gemacht. Doch wieder andere hatten einen so glatten Stamm, dass sie unbestiegen blieben. Einen sehr liebevollen Umgang mit der Natur war das also nicht zu nennen. Doch unser „Wald“ hat es überstanden. Doch wie mochte ein richtiger Wald wohl aussehen? Neben einem richtigen Wald hatte ich aber auch das dringende Bedürfnis, einen richtigen Berg zu sehen. Die höchste Steigung, die ich kannte, war der Elfgener Berg, der sich zum Hahnerhof hinauf schob. Wenn wir oben standen und über das weite Land blickten, zeigte mir mein Vater mit dem Krückstock an, wo der vermeintliche Drachenfels sei und auch die Eifelberge. Ich mochte meine Augen so sehr anstrengen, wie ich wollte und den Horizont abstreifen, bis ich vom vielen Schauen müde wurde: Ich sah weder Eifel noch Drachenfels. Dabei wollte ich doch so gerne einen richtigen Berg sehen. 

Doch eines Tages war die Möglichkeit Wald und Berge gemeinsam zu sehen in greifbarer Nähe gerückt. Die Firma Schwartz & Klein sowie die übrige Textilindustrie im Umkreis, hatten für die Kinder ihrer angestellten Arbeiter den Listerhof im Sauerland als Erholungsstätte gepachtet. Natürlich war ich hellauf begeistert, als die Frage kam, ob ich dort hin möchte.

An einem späten Septembertag war es soweit. Mit dem Bus wurde die sehnsuchtsvolle Ferne angesteuert. Nach vielen Stunden voller Ungeduld wurde die Natur eine andere. Erste Hügel werden sichtbar und der Baumbewuchs verdichtete sich zusehends. Bäche schlängeln sich durch Wald und Wiesen, ein Reh wird gesichtet. Da war sie also nun, die Welt, die ich so lange verinnerlicht und ersehnt hatte. Den Duft des Waldes sog ich in mich auf. Es roch nach Tannenbaum und Pilzen. Dann das große Haus, das so weltabgeschieden mitten im Wald stand. Es hatte hohe, dunkle Räume. Ritterrüstungen standen an den Wänden, und auch sonst wirkte alles wie auf einer Burg. Sechs lange Wochen blieb ich dort, durfte durch Tannen- und Laubwälder streifen, die gerade erbaute Listertalsperre besichtigen und die märchenhafte Attahöhle bestaunen. So hatte ich in sechs Wochen mehr gesehen, als im ganzen vorherigen Kinderleben. Ich gehörte zu den ganz wenigen, die überhaupt kein Heimweh verspürten. Zuhause gab es dann natürlich viel zu erzählen, auf Hochdeutsch, war doch klar. Nun war ich ja ein Weitgereister.

 



27. Zeitvertreib und Weihnachtsgedanken

Wenn der Winter nahte, hieß es öfters, zu Hause herumhocken. Damit keine Langeweile aufkam, machte man alles das, was man gemeinhin nicht durfte. Kaum war die Mutter aus dem Haus, nahm ich die Bratpfanne, legte ein paar Brikett mehr auf, nahm Milch, Zucker und Haferflocken und rührte daraus in der Pfanne ein süßes Produkt zusammen, welches Toffee sein sollte. Meist gelang mir dieses Toffee aber so hart, dass es mit dem Hammer klein geschlagen werden musste. Zu meinen ganz großen Favoriten aber gehörten Reibekuchen. In meiner Glanzzeit schaffte ich 25 Stück. Reibekuchen gab es zwar öfters, doch wiederum nicht so oft, dass es für mich befriedigend war. Für deren Herstellung und unseren Hunger, wurden nämlich Unmengen von geschälten Kartoffeln benötigt. Meiner Mutter habe ich immer auf die Finger geschaut und gelernt, wie man die Welt im Kleinen beherrschbar machen kann und sich so das Überleben sichert. Die selbst gemachten Reibekuchen gelangen mir deshalb in der Regel auch bestens. Kartoffel zu ernten indes, gehörte trotz großer Abneigung, zu meiner ungeliebten Aufgabe. Mein Vater grub sie mit dem Spaten aus, weil er wegen seines fehlenden Beines Schwierigkeiten hatte, sich zu bücken. Ich durfte dann die Kartoffeln aus der Erde rausbuddeln und einsammeln. Diese Arbeit gehörte zu meinen meistgehassten Tätigkeiten. Die Erde trocknete ganz schnell an den Händen an, und beim aneinander Reiben ging mir dieses unbeschreiblich  unangenehme Gefühl durch Mark und Bein. 
Chemische Selbstversuche nahm ich auch vor. Wie kann man die Brikett im Herd schneller zum Brennen bringen? Dazu nahm ich dann Vaters Feuerzeugbenzin. Ein ordentlicher Guss durch die geöffnete Ofentür und schon brannten die Briketts. Leider auch Gesicht und Hände. Noch nach Tagen war die Haut puterrot. Die angesengten Haare waren dabei das kleinere Übel. 

Kalt wurde es im Winter im Haus, saukalt sogar. Deshalb scharte sich die ganze Sippe in der Küche um den Esstisch zusammen. Undenkbar heute, sich vorzustellen, wie so was funktionieren konnte. Unvorstellbar deshalb schon, weil die Familie 8 Personen an der Zahl hatte: Vater, Mutter und 6 Kinder. Da wurde nun gebügelt, gekocht, gegessen, gestritten, und gelacht – oft alles auf einmal. Dabei maß der Raum nur etwa 4 an 3 Metern. Jeder hatte seinen angestammten Platz. Und wehe, dieser war besetzt. 
Der Sonntagnachmittag war meine liebste Zeit. Dann war es relativ ruhig im Hause. So konnte ich meine heiß geliebte Kinderstunde im Radio in Ruhe verfolgen. Hörspiele waren ein besonderes Erlebnis für mich. Vermittelten diese doch eine Welt, in der die Fantasie die wildesten Sprünge im Kopf vollzog.

 

Gewaschen wurde sich zunächst noch an der einzigen Wasser-Zapfstelle in der lausig kalten Diele zum Hof. In späteren Jahren wurde dann ein Bad angebaut. Ein ungeheurer Luxus! Grüne Kacheln an der Badewanne. Grüne Kacheln auch an den Wänden – allerdings aus Presspappe. Warmes Wasser gab es nun endlich auch. Dazu musste ein Kupferkessel durch Holz angeheizt werden. Da ein jeder nun im Luxus aus Grün baden wollte, war das ein Prozedere, das sich über den ganzen Samstag hinzog. Keiner wollte so schnell die Wanne verlassen. Das Warmwasser war zwischenzeitlich auch verbraucht. Also wieder warten bis Neues angeheizt war. Oh Gott, oh Gott! 
Abends, wenn Bettruhe angeordnet war, gab es Geschrei. Das ging nach einem bestimmten Rhythmus: zuerst die Jüngsten, dann die Mittelalten und zum Schluss die ranghöchsten Kinder. Ein jeder fühlte sich natürlich bereits als erwachsen und somit wollte keiner als Erster ins Bett. Da half dann nur noch ein Machtwort des Vaters. 
Ohne Stein ging das aber nicht. Der Stein war als Fußwärmer gedacht, und der hatte tagsüber im Backofen zwecks Aufheizung gelegen. Einen guten Findling dafür suchte man am Bach. Die, die keine fanden, nahmen einen Ziegelstein. Dessen scharfe Kanten zerrissen zur Freude meiner Mutter natürlich die Bettlaken. Schön eingewickelt hielt so ein Stein schon die Wärme bis zum frühen Morgen. Doppelglasscheiben oder Besseres gab es natürlich noch lange nicht. Ebenso wenig waren die Dachböden isoliert. So verkrochen wir uns unter unsagbar schweren und feucht anfühlenden Federbetten. Auf den Scheiben bildeten sich die schönsten und dicksten Eisblumen. 

 

Alsbald begann die Zeit der Festtage. Am 28. November war stets mein Namenstag. Namenstag deshalb, weil sich das für Katholiken so geziemte. Geburtstage waren Festtage der Heiden, also der Evangelischen. Da gab es dann auch eine große Portion Toffee, extra für mich. Von meiner Mutter hergestellt, war dieses aber genießbarer, als mein selbst Geköchelter. 

Es folgte der Nikolaustag. Den Nikolaus spielte für gewöhnlich der lange Helmut Boveleth. Wegen seiner körperlichen Größe und der auf seinem Kopfe hochragenden Mütze sah er schon sehr respektheischend aus. Natürlich wusste ich nicht, dass er unter der Maske steckte, weil ich noch fest an den Nikolaus glaubte. Was habe ich dabei manchmal Ängste ausgestanden. Die Erwachsenen hatten natürlich ihren Riesenspaß, wenn Kinder mit tränenüberströmten Gesicht Besserung gelobten. Die Nacht war schlaflos vor solchen Ereignissen. Immer wieder zählte ich die Schläge der großen Wanduhr in der Küche. Um fünf Uhr morgens war dann kein Halten mehr. Die Treppe hinab zur Küche geschlichen und vorsichtig das Licht angeknipst. Das Leuchten der bunten Teller hatte die lange Wartezeit gelohnt. Nüchtern und aus heutiger Sicht betrachtet waren die Teller mickrig klein gefüllt. Eine Apfelsine, Äpfel, selbst gebackene Plätzchen, und wenn es hoch kam, eine Tafel Schokolade, die dann aber mehr aus Zuckerkristallen denn aus Schokolade gegossen schien. Und natürlich Printen, mein Lieblingsgebäck! Vielleicht lagen auch ein paar Handschuhe oder eine Mütze auf meinem Platz, vielleicht aber auch ein Strickpullover oder eine Jacke. Strickpullover machte mein Vater. So manchen Abend saß er mit Stricknadel bewaffnet und Wollknäuel aus der Textilfabrik auf seinem Platz, um uns etwas Warmes zu fertigen. Nicht selten wurde die Wolle aus zwei zu klein gewordenen Pullovern dazu benutzt, um einen neuen, größeren zu stricken. Klompen (Holzschuhe), das Hollandmodell, gab es manchmal auch, kann ich mich recht gut dank der wunden Füße erinnern. 
Die knapp 3 Wochen bis zum Heiligabend wurden unerträglich lang. Die Neugier und Anspannung wurde dadurch gemildert, dass alle Schränke und Schubladen intensiv nach Geschenken oder Andeutungen von Geschenken durchsucht wurden. Immer hoffte man das zu finden, was man sich doch sehr wünschte. Bei mir persönlich war es aber eher so, dass ich nur die Gewissheit haben wollte, ob es überhaupt Geschenke gab. Wurde ich dann fündig, schloss ich schnell die Augen, um mir die Vorfreude nicht selbst zu verderben. Und irgendwie hatte ich meinen Eltern gegenüber auch ein Schuldgefühl dabei. 

In der Küche passte neben Herd, Schrank, Tisch, Sofa, Stühlen und Nähmaschine auch noch der Weihnachtsbaum. Der wurde dann der Nähmaschine obenauf gestellt. Das spätere Wohnzimmer war noch nicht benutzbar, weil es mangels Möblierung noch nicht seinen Zweck erfüllen konnte. War Heiligabendnachmittag endlich da, wurde das Bäumlein aufgestellt. Die Kugeln wurden vom Schlafzimmerschrank heruntergeholt, wo sie während des übrigen Jahres in Zeitungspapier gewickelt auf erneuten Einsatz warteten. Am liebsten waren mir die beiden kleinen bunten Vögelchen aus bemaltem Glas. Das Engelshaar wurde aus Watte gezupft. Nun fehlte nur noch die Spitze. Wenn diese auf dem Baume angebracht war, konnte Weihnachten beginnen. Weihnachten schneite es immer, sagen die älteren Leute heute. Doch Schnee am Heiligabend, dessen kann ich mich bewusst nur einmal erinnern - frostig war es wohl öfters schon. Ist das Christkind schon unterwegs? Ist es in der Nachbarschaft schon gesichtet worden? (Den unsäglichen amerikanischen Weihnachtsmann gab es zu diesen Zeiten ja noch nicht) Die ungeduldigen Fragen rissen nicht ab. Zu den London kommt das Christkind offenbar wie immer ganz zuletzt. Doch dann war es soweit: Wir jüngeren Kinder wurden in die leere Stube geschickt. Jedes Geräusch wurde fortan genaustes registriert. Es raschelte und knisterte in einem fort. Ist das Christkind stumm – nie hörte man dessen Stimme? In meiner Fantasie hatte das Christkind natürlich auch ein bestimmtes Aussehen. Sicher sah es nicht so aus, wie der mickrige und nackte Jesusknabe, dort in der Krippe unter dem Baume. Nein, es hatte ein langes und weißes Gewand an, große Flügel und langes wallendes, blondes Haar; und dabei ein ganz liebliches Aussehen – weiblich natürlich. Die Türe öffnete sich einen Spalt: „Psst ..., gleich“! Nun war es soweit! Der Blick wanderte rasch durch den Raum. Welcher Teller, welches Geschenk war mir zuzuordnen? „Nein, das gehört deinem Bruder“. Und dann hatte ich endlich das richtige erwischt. Skepsis, Neugier – selten war es das, was ich mir gewünscht hatte. Freude, zumindest Zufriedenheit, war endlich immer da. Ich wusste schon sehr genau, um die Problematik meiner Eltern, für acht Personen ein Weihnachtsfest gestalten zu müssen. Das Leben im Nachkriegsdeutschland konnte schon grausam hart sein. Natürlich ging es den meisten Familien genauso oder auch schlechter. Deshalb wurde das Los der Armut, das wir mit anderen teilten, auch nicht als so ganz hart empfunden. Nach der Vorfreude dann die Nachfreude, manchmal aber auch etwas Schadenfreude oder auch etwas Missmut. War der Rausch der ersten Überraschungen verflogen und die Wunderkerzen abgebrannt, kam Kartoffelsalat mit Würstchen auf den Tisch. Es hat gemundet. 
Am frühesten Morgen des 1. Weihnachtstages, um fünf, wurde die Christmette besucht. Die Kirche war dann proppenvoll. Inmitten der vielen Menschen wurde irgendwie ein Gemeinschaftsgefühl spürbar. Weihnachtlicher Friede schien aus den Gesichtern heraus zu leuchten. Möglicherweise lag das an den erst kurz zurückliegenden Kriegsjahren. Die Sehnsucht nach Frieden war wohl stark gegenwärtig. Mit viel Weihrauch und lateinischem Unverständnis waren für mich dann fast drei Stunden zu „durchleiden“. Und irgendwann wurde die Sprache wieder deutsch. Das „Stille Nacht, heilige Nacht´...“ hob an. Frohe Weihnacht! Mit guter Laune dann nach Hause, wo man sich mit vollen Backen den Geschenken widmen konnte.

 

 

 

28. Kalte Winterabende

An frostigen, klaren Winterabenden spielten wir gerne Verstecken. Die Versteckmöglichkeiten waren vielfältig.  In fremden Gärten, hinter Schuppen, Büschen und Obstbäumen ließ es sich wunderbar unsichtbar machen. War man des Versteckens überdrüssig, wurde gerne die erwachsene Nachbarschaft geärgert. Vorzugsweise bei jener, die uns nicht so wohl gesonnen begegnete. Die erforderlichen Maßnahmen dazu waren zum einen das „Giebelrubbeln“. Das Werkzeug, das man dazu benötigte, ein simpler Ziegelstein. Ein schreckliches Geräusch, wenn man es von innen vernahm. Die Gefahr erwischt zu werden, war natürlich groß, also mussten Aufpasser dazugesellt werden. Eine andere Möglichkeit, und die war wesentlicher gefahrloser, bestand darin, einen Nagel über eine der bevorzugt ausgesuchten Eingangstüren zu befestigen. Dann eine Kordel  über die Straße hinweg bis zur gegenüberliegenden Wiese gespannt. Am Ende der Kordel, die an der Tür befestigt war, wurde ein Stein oder eine Kartoffel angebunden. Türklingeln waren ja damals noch eher selten, es wurde auf Klopfzeichen hin geöffnet. „Poch, poch ... pochpoch, pochpoch“. Die Tür öffnete sich, ein fragendes Gesicht – und wieder weg. „Poch, poch, poch... poch, poch, poch“. Nun lugte schon wesentlich schneller ein Gesicht aus der Türe hervor. Dann spiegelte sich aber schon ein wütender Ausdruck darin, Fäuste wurden geballt. Das Spielchen wiederholte sich in der Regel mehrmals, bis der Gegner entnervt aufgab und wir gelangweilt nach Hause trotteten. 
Für einen besonders bevorzugten Gegner hatten wir ein extra schönes Geschenk parat. Die Idee kam wohlgemerkt nicht von mir, sondern von der etwas älteren Jugend. Da das Klo wie gewohnt am Ende des Hofes angebaut war, bot sich nun endlich eine Gelegenheit, einen grandiosen Einfall zur Ausführung kommen zu lassen. Zunächst hieß es warten. Irgendwann würde der alte Knacker mit dem dicken Bauch und dem Wehrmachtsgürtel drumherum, das Örtchen aufsuchen wollen. Das würde mit aller Erkenntnis bald nach dem Abendessen passieren. Dann war es soweit. Natürlich waren Vorbereitungen getroffen worden. Auf einem Stück Zeitungspapier war ein nicht ganz kleines Häuflein abgelegt worden. Während unser Opfer nun ebenfalls sein großes Häuflein machte, wurde auf dem Türgriff der Hoftür, die zur Küche führte, also dort, wo unser Opfer in Kürze hinfassen würde, das bereit gemachte Präsent vorsichtig abgelegt. Eine Hofbeleuchtung gab es noch nicht, alle Wege fand man auch im Dunklen. Sein Pech! Die Urlaute, die wir anschließend in der Dunkelheit hörten, sind nicht mehr genauestens überliefert, doch irgendwie waren auch Worte wie „Scheiße“ zu vernehmen. Doch es sollen auch welche der weniger feinen Sorte gefallen sein. Das Schönste war, niemals sind die Täter gefasst worden. Es war vielleicht nur so eine dunkle Ahnung da, jedoch kein Beweis. 

An den klaren, froststarrenden Winterabenden war ich auch ganz gerne alleine draußen. So konnte ich mich intensiv mit dem Mond befassen. Gab es dort oben wirklich den „Mann im Mond“? So ganz glaubhaft schien mir das nicht zu sein. Doch warum konnte der Mond so frei am Himmel schweben? Wie groß war er wohl? Lebten etwa fremde Wesen darauf? Würde man jemals dorthin fliegen können? Das waren die Fragen, die mich am meisten interessierten. Hatten wir Neumond, lag ein tiefes Schwarz über dem Himmelsgewölbe. Umso intensiver konnte ich mich der Betrachtung des Sternenhimmels hingeben. Die unzähligen Sterne funkelten wie Diamanten in der frostklaren Luft. Schon zu dieser frühen Zeit meiner Kindheit hatte ich eine tiefe Sehnsucht nach dem Wesen dieser Erscheinungen. Was mochte hinter den Sternen sein? War die Unendlichkeit begreifbar?                           
Heute gibt es diese Faszination am Himmel nicht mehr - schon lange nicht mehr. Viel später, bei meinen Bergtouren, habe ich dieses grandiose Schauspiel wieder erleben dürfen. Die klaren Bergnächte brachten mir diese Erlebnisse meiner Kindheit wieder ganz nahe. Dann spürte ich in mir eine tiefe Sehnsucht und Demut! 




 

29. Gierath... oder das Ende der Welt

In Gierath lebten meine Großeltern mütterlicherseits. Die Großeltern väterlicherseits habe ich leider nicht mehr kennengelernt. Bei meiner Geburt waren sie schon verstorben. Wenn also Namenstage anstanden oder das Schützenfest angekündigt wurde, zogen wir mit Sack und Pack nach Gierath. Mangels ausreichender Menge an Fahrrädern natürlich zu Fuß. Zu der Zeit war die Straße dorthin eine einzige Mondlandschaft. Von Schlaglöchern übersät und ohne Asphaltdecke. Eine Buslinie gab es auch noch nicht. Wie beschreibt man Gierath: War nicht gerade Schützenfest, hielt sich dort hartnäckig ein Hauch von Mittelalter.  Gemeinsam wurde - also bevor die Kuchenschlacht begann - das Schützenfest aufgesucht. Der Kirmesplatz war im Vergleich mit dem Jüchener natürlich chancenlos. Bei der Parade der Schützen gab es Stechschritt und Tschingderassabum. So waren halt die Menschen dort: einfach, etwas schlitzohrig, doch auch humorvoll. Allerdings auch mit einem Hauch heiterer Engstirnigkeit behaftet (Diese Einsichten und Ansichten nennt man wohl Lokalpatriotismus). Zur  Lieblingsbeschäftigung gehörte dann auch, hinter zugezogenen Gardinen hockend, die Welt aus verschleierter Sicht zu betrachten und ja keinen der Vorbeigehenden aus den Augen zu lassen - natürlich mit entsprechender Bewertung. 

Die Schmitze, also unsere Verwandtschaft, war eine große Sippe. So war das Haus (zumal bei Festen), zur Kaffeezeit proppenvoll. Die Kuchen ähnelten sich natürlich überall. Es gab reichlich, und alle mussten durchprobiert werden. Nach dem Kaffee kam obligatorisch die Cognac-Karaffe auf den Tisch. Unbeobachtet habe ich natürlich von dem hellbraunen Getränk auch probiert. Wir Geschwister und eine Menge Vettern und Cousinen sorgten für beträchtliche Unruhe. War dann bis zum Abend Haus und Garten bis zum allerletzten Winkel durchsucht und alles schön durcheinander gewirbelt, Grosstante „Len“ zum wiederholten Male zum Weinen gebracht und Oma und Opa zur Verzweiflung, ging es mit Pack und Sack wieder über die Schotterpiste nach Jüchen. 


Gegenbesuch aus Gierath kam natürlich auch. Ob nun ein Arztbesuch anstand, ein Medikament aus der Apotheke besorgt werden musste oder auch nur sonstiger Käufe wegen, dann ging eben es nach Jüchen. Bei  Rückkehr war bei „Mia“, so nannten sie meine Mutter, Raststation. Unser Plumpsklo war ein gefragter Ort und wurde ausgiebig genutzt. Die meisten dieser Durchreisenden waren ja irgendwie über Generationen hinweg näher oder weniger näher mit meiner Mutter verwandt. Der absolut seltsamste Mensch unter diesen Pilgern war „Sätt“ oder „Sett“ oder auch so ähnlich. Diese kam stets in Begleitung von „Len“, der Tante meiner Mutter. Len war eine Altjungfer, wie sie im Buche steht. Es wurde aber auch gemunkelt, dass sie gar keine Jungfrau sei, was immer das auch heißen mochte. Doch zurück zu „Sätt“: Die Person „Sätt“ war ein riesenhaftes Weib, mit ausladenden, raumgreifenden Bewegungen. Das Äußere war vollständig in Schwarz gehalten; lang bis zu den Schuhen reichte der Rock. Auf dem Kopf ein schwarzes Dings (Kapuze) aus Samt, das  unter dem Kinn zusammengebunden war. Daraus hervor leuchteten zwei große, rote Backen. Doch das Imposanteste an ihr war die mächtige, wulstige Unterlippe. In voller Gestalt betrachtet, hätte dieses Weib gut und gerne des Teufels Großmutter abgeben können. Sie legte jedoch stets eine einnehmende Fröhlichkeit an den Tag. Die einzige Befürchtung meinerseits bestand nur darin, dass sie mir womöglich - wo ja eventuell auch mit zu rechnen war - mit dieser Superlippe einen fetten Schmatzer ins Gesicht setzen würde. Gottlob, ich wurde verschont. 
Nach dem traditionellen Gang zum Klo und einem Glas Wasser als Wegzehrung, entschwand das Völkchen dann wieder Richtung Gierath. Im Klo habe ich dann umgehend nachgeschaut, ob noch alles seine rechte Ordnung hatte.


   



30. Wiener Schnitten und Rhabarber

Bäcker Schrey war der fahrende Lieferant von Backwaren. Mit seinem Brotmobil kreuzte er zweimal die Woche auf. „Schnell“, sagte meine Mutter dann, „hol mal ein Wiener“. Wiener war die bevorzugte Weißbrotsorte, die recht süß schmeckte und am Sonntagnachmittag mit Rhabarbermus bestrichen auf den Tisch kam. „Sag dem Bäcker Schrey, die Mutter wäre nicht da; Geld hätte sie auch vergessen da zu lassen, beim nächsten Mal würde das Brot aber bezahlt werden, so lange möge er doch anschreiben“. Ich tat folgsam, wie mir geheißen und erhielt mein Wiener-Brot. Zu dieser Zeit waren die Mütter aber oft nicht zu Hause. Das wusste der Meister Schrey, deshalb hatte er immer ein Büchlein zum Anschreiben mit. Der Aufsatz seines Lieferwagens war aus Presspappe gefertigt. Mit der Zeit hatte sich darin - wer weiß woher - ein Loch gebildet. Etwa so groß, dass eine Kinderhand hindurchpasste. Just an dieser Stelle lagen stets die leckeren Teilchen. Ja, der Bäcker Schrey, der wusste schon, was Kindermäulern schmeckte ... 
 

 


31. Es lebe der Sport

Die Sonntagnachmittage waren manches Mal so recht öde. Zum Sportplatz zog es unsere Jugend dann. Den anderen zum Spaß, mir zum Unwillen! Dort spielte dann die Viktoria aus Jüchen. Mit Fußball konnte ich aber rein gar nichts oder noch besser gesagt, überhaupt nichts anfangen. Das war die absolut langweiligste Spielart, die ich mir überhaupt denken konnte (das hat sich erst gewaltig geändert, als ich ab den frühen 60er Jahren die Fohlenelf in Mönchengladbach besuchte). Bei den Spielen der Jugend auf der Neußerstraße wurde ich deshalb auch bestenfalls, und auch nur wenn absolute Not am Mann herrschte, als Torwart missbraucht. Einmal nahm mich mein Vater mit zum Stadion des „Rheydter Spö“. Es war wohl ein wichtiges Meisterschaftsspiel. Unglaubliche Mengen an Zuschauern, die begeistert dem Spiel folgten. Mir erschienen die neunzig Minuten Spieldauer wie eine qualvolle Ewigkeit. 
Ein andermal, zu Beginn der 50er, durfte ich mit zum Grenzlandring. Die Autorennfahrer, die dort mit nie gesehener Geschwindigkeit ihre Runden drehten, haben wesentlich mehr Eindruck auf mich hinterlassen. Natürlich war mir keiner der Rennfahrer bekannt. Wer gerade das Feld anführte, war mir deshalb auch nicht so recht geläufig. Hauptsache war aber, es wurde mit einem Riesenlärm durch den Ring gesaust. Mercedes-Silberpfeile fuhren auch mit. Darunter konnte ich mir aber auch noch nicht so recht etwas vorstellen. Soviel zu meinen sportlichen Ambitionen! 
An unserer Straße fanden solche Rennen fast an jedem Abend statt. Eine gewisse Motorradclique aus dem Ort frönte dieses Vergnügen mit wachsender Begeisterung. Kunstvoll beherrschte sie mit ihren schweren Maschinen das Kurvenfahren. Waren sie im Ort auf die Neußerstraße eingebogen, wurde der Gashebel bis zum Anschlag aufgedreht. In der scharfen Kehre zu Beginn unserer Siedlung lagen sie dann schon fast waagerecht. Bewusst der vielen Zuschauer, die diese Rennen mit Spannung erwarteten, ging es weiter mit Vollgas in die nächste scharfe Kurve am Ortsausgang. Bis dann eines Tages die Rennen prompt aufhörten: Es hieß, ein Strommast hätte plötzlich im Wege gestanden.

 

 

 

32. Die Fabrik

Schwartz & Klein waren die Hauptarbeitgeber für die Jüchener, aber auch der für die Dörfler der nahen Umgebung. Am großen Schornstein konnte ich immer die Windrichtung ablesen. Für die Windrichtung sorgte indirekt Falkenbergs Michel. Wenn er ordentlich seine Kessel einstochte, lief der Betrieb auf Hochtouren. Meinem Vater musste ich des Mittags so manches Mal den Kimmel (Essnapf) an dessen Arbeitsplatz in der Weberei bringen. Ein Riesenlärm erfüllte die Hallen und ich hatte mächtig Respekt vor diesen gewaltigen, lärmenden Maschinen, und bestaunte sie Mal um Mal. Für die nächste Stunde war ich dann stets taub. Doch so eine große Fabrik war natürlich auch eine herrliche Spielwiese für uns Kinder. Überall lagen Schrotthaufen mit Maschinenteilen, die noch zu allen möglichen Dingen zu gebrauchen waren. Wir bauten uns Spielhäuschen aus Wellblechplatten und hatten so nie Langeweile. Man ließ uns sogar weitgehend in Ruhe. Wurden wir mal weg gescheucht, ging es eben an einer anderen Stelle weiter. Selbst vom Nachtwächter war wenig zu erwarten. Entweder schlief er gerne oder saß im Pförtnerhaus beim geselligen Umtrunk. In den großen Wolllagern ließ sich wunderschön Verstecken spielen. Waren wir so stundenlang durch die Wolle gekrochen, sahen wir aus, wie die Schafe selber. Wundern tue ich mich heute noch, dass der ganze Kasten nicht abgebrannt ist - spielten wir doch gerne und oft mit Feuer. 
Das Wirtschaftswunder in Deutschland machte auch vor Jüchen und damit auch vor Schwartz & Klein nicht halt. Es wurden mehr Hallen benötigt, damit man noch mehr Webstühle dort reinsetzen konnte, um dann noch mehr Stoff zu produzieren. So kam einmal ein großer Bautrupp an, mit vielen Maschinen im Schlepp. Zuerst wurde kräftig gemauert. Als die Wände standen, kamen andere Leute. Ihre Maschinen konnten große Eisenträger auf die Mauern hieven. Darauf kam das Dach. Sie hatten aber noch eine Maschine mit, die sehr großen Krach machte – eine Art Dampfmaschine war es wohl. Lange habe ich geglaubt, dass diese Krachmaschine nur dazu da sei, ordentlich Lärm zu machen, weil das immer so auf einer Baustelle sein müsse.  Später wusste ich dann, dass sie die Lastwinden anzutreiben hatte.

Der allerliebste Spielplatz war mir aber der Bach. Aus diesem floss unaufhörlich buntes Wasser, welches aus den Färbereien der Fabrik kam. Mal war es rot, mal war es gelb, mal grün oder schwarz – doch meistens blau. Darin ließ es sich dann schön waten und Schiffchen aus Holzbrettchen um die Wette fahren lassen. Manchmal glitt einer von uns aus und saß dann voll mit dem Hintern in der Brühe. Viele braune Schnecken hielten sich ebenso gerne am Bach auf. Diese durften dann auch ein Färbungsbad nehmen. Abends sahen wir regelmäßig so aus, wie die späteren Schlümpfe aus dem Fernsehen. Eine Kläranlage, zum Schutze der Umwelt, wurde erst später gebaut; bis dahin floss die Giftbrühe in den Jüchener Bach und weiter in den Rhein. Dass wir diese Abwässer ohne gesundheitliche Schäden überlebt haben, ist mir allerdings heute noch ein Rätsel.

 

 

 

33. Die Siedler

Ganz urplötzlich tauchten neue Gesichter an der Nüßerhött auf. Doch bis die in Erscheinung treten konnten, waren umfangreiche Vorarbeiten nötig. Arbeiter erschienen auf der Wiese des Bauern „Köppel“. Diese steckten zwischen dem Gessler, dem ersten Haus an der Nüßerhött und der Patschkuhl (Gährungsgrube des Bauern „Köppel“), sechs Areale ab. Dann wurde geschippt und geschuftet. Teils mit Lkw, teils mit Ochsengespann wurde der Aushub abgefahren. Als die Baugruben tief genug waren, kamen die Maurer. Diese bauten ihre Bude auf, gruben ein Extraloch, darüber setzten sie ein Holzhäuschen mit Herz in der Tür. Mir schien, dass dieses Häuschen besonders wichtig war für die Maurer; es wurde oft aufgesucht. Beton wurde gegossen und große Steine aufeinander gesetzt. Nach geraumer Zeit (davon gab es noch genug), kamen der Zimmermann und der Dachdecker. Dann standen sechs neue Reihenhäuser da und sechs neue Nachbarsfamilien dazu. Und eine Menge Unruhe mehr dazu. Die Baumeister hatten zwei Mädchen, die Willich vier Kinder - drei größere und ein kleinerer - die Reuter mit zunächst einem Mädchen, die Müller mit zwei größeren Söhnen, daran anschließend die Könzgen, mit Sohn und 2 Töchtern; und zuletzt, die Ophelders mit deren drei; einer großen Tochter und Sohn sowie einem Nachzügler. 

Zum Schluss, als die Maurer abzogen, wurde auch das Häuschen mit Herz abgebaut. Nun wurden die Gärten abgesteckt. Dabei verlief die Grenze zwischen dem Baumeister-Haus und dem Willich-Haus – und daran erinnere ich mich ganz genau – direkt durch die angesammelte Landschaft der Sch…grube. Zoff gab es nun zwischen den beiden und somit der erste Nachbarstreit. Streitobjekt war: wem steht der höhere und damit größere Haufen zu. Gartendünger war nun mal gefragt. 
 

 



34. Eier und Pflaumenmus

Spielgefährten gab es nun plötzlich eine Menge mehr. Doch die Älteren waren nun bereits so groß, dass ich für diese Truppe nicht mehr infrage kam. Also musste ich mich nun den Jüngeren zuwenden. Für die war ich natürlich nun der Älteste. Was für mich wiederum ein Problem bedeutete. Wer wollte schon gerne mit Großen spielen. Mal klappte es, mal klappte es nicht. Man musste sich halt arrangieren. 
Beim Bauern Köppel in der Wiese ließ es sich immer noch gut spielen. Stellte dieser Köppel doch mitten auf seiner Kuhweide einen großen, vergitterten Wagen auf. Diesen steckte er dann voller Hühner. Die Hühner freuten sich natürlich über soviel Natur und Auslauf, sodass sie hin und wieder aus Dankbarkeit ihre Eier ins  Gras ablegten. Das sprichwörtlich gefundene Fressen für uns. Ab sofort wurde zwischen aufgeschichteten Steinen Feuer gemacht und in der mitgebrachten Pfanne Spiegeleier gebraten. Doch wie sollten wir an den eigentlichen Schatz gelangen, der in den Nestern des Wageninneren lag? Dort warteten noch viele schöne und dicke Eier auf uns. Guter Rat war nicht teuer. Die Problemlösung fanden wir im kleinen Ophelder. Er war nun mal der Schwächlichste von allen. Also wurde er ausprobiert – und er passte. Seine Körperbreite entsprach nur unwesentlich mehr, als die der Hühner. Und wo diese durchpassten, da passte er auch. So gab es fortan viele schöne Spiegeleier. Köppels Haushälterin, die täglich die Eier zu holen pflegte, konnte es natürlich nicht begreifen. Hatten die Hühner doch tatsächlich eine Krise. Waren wir der vielen Eier satt, wurde auch Pflaumenmus gekocht. Pflaumenbäume gab es genug im Revier. 


 


35. Köln, der Rhein und Coca Cola

Abends, so gegen ½ 7 Uhr, stand ich meistens draußen. Ich erwartete den Express, der aus Holland kam und angeblich bis zur Schweiz fahren sollte. Also dorthin, wo die riesengroßen Berge stehen. Alleine mir die hohen Berge der Alpen vorzustellen, war schon sehr vermessen. Dann plötzlich das bekannte Gezische und Geratter aus Richtung Schwimmbad her. Schon verschwand der Express hinter Schwartz & Klein, um Augenblicke später auf der linken Seite hervor zu schießen. Die mächtige Lokomotive schnaufte auf und entschwand dann mit ihren vielen Wagons ebenso schnell wieder in die Ferne. Immer ließ mich der Express mit etwas Wehmut zurück; wie gerne wäre ich mal unter den Reisenden gewesen. Das Fernweh wurde gemäßigt, als es plötzlich hieß, am Sonntag geht es nach Köln. Eine schlaflose, aufgeregte Nacht stand bevor. Dann in aller Herrgottsfrühe zum Bahnhof. In der "Holzklasse" wurde Platz genommen. Die Bänke jedenfalls waren noch aus Holz. Der lederne "Rasiergurt" am Fenster wurde hinabgezogen, damit ich die vorbeirasende Landschaft besser genießen konnte. Schon bald war ich rabenschwarz im Gesicht, und in den Augen stachen Kohlekrümel vom Auswurf der Lokomotive. Nach langer Fahrt fuhren wir in einer Riesenhalle hinein. „Das ist der Kölner Bahnhof“, sagte mein Vater. Draußen vor dem Bahnhof konnte ich dann gar nicht weit genug den Kopf in den Nacken legen, um die Wucht und Größe des Doms zu begreifen. So eine große Kirche, staunte ich Mal um Mal. Bisher hatte ich davon nur immer das kleine, silberne Abbild auf dem Schrank meines Opas gesehen. Doch schon wurde ich abgelenkt. Standen wir doch jetzt direkt am Ufer des Rheins. Einmal schon, in Düsseldorf, war ich mit dem Zug rüber gefahren. Doch als ich nun so unmittelbar davor stand, schien mir der Fluss noch viel, viel größer und mächtiger zu sein. Oben, über der großen Eisenbrücke, rumpelten die Züge unaufhörlich hinweg. Am Ufer lagen viele weiße Schiffe. Im Wasser, halb versunkene, rostige Rümpfe. „Die wurden im Krieg versenkt“, klärte mich der Vater auf. An einem Stand gab es dann das wundervollste Getränk meines Lebens. Gehört hatte ich schon davon. Es war Coca Cola! Nun sollte ich es sogar echt kosten dürfen. Jeweils zwei Geschwister hatten sich eine Flasche zu teilen. Da wurde dann auch noch der letzte Tropfen herausgelutscht. Diesen einmaligen Geschmack habe ich heute noch auf der Zunge liegen. Waren wir doch nichts anderes gewohnt, als Leitungswasser oder Leitungswasser mit Natron, welches zur Brause-Erzeugung herhalten musste. Zu den vielen Höhepunkten wurde dann noch einer drauf gesetzt: So gingen wir doch tatsächlich über die schwankende Anlegerbrücke auf ein weißes Schiff. Und dann schwammen wir mitten auf den Rhein. So ganz wohl war mir zunächst nicht in meiner Haut. Was wäre, wenn wir jetzt mit den ganzen Leuten hier im Rhein versinken würden? Dazu, wo ich doch kein bisschen Schwimmen konnte. Doch es gab soviel zu sehen, dass die vermeintliche Gefahr ins Hintertreffen geriet. 
„Nun wäre aber genug“, meinte der Vater, wir wollten ja noch nach Köln-Vogelsang - so hieß der Stadtteil wohl. Dort wohnten Onkel und Patentante. Doch viel wichtiger war mir der Vetter Horst. Das heißt: wichtig war mir eigentlich die Unmenge an Spielzeug, des Vetter Horst. So auch eine elektrische Eisenbahn, Kölsch Hännesche-Puppen, Baukästen und, und, und … Dazu noch eine Menge Mickymaushefte. Der Tag war viel zu kurz, um alles auszuprobieren; und sowieso, um das alles geistig zu erfassen. Davon konnten wir zuhause nur träumen. Da hatte ich anschließend schon noch eine gute Weile mit zu tun, das alles zu verarbeiten. Die Nüßerhött erschien mir nun eine Zeit lang recht elend.

 

 

 

36. Wechseljahre

ietenEin schwerer Gang stand bevor: Ich wurde eingeschult. Schon vorher gab es eine neue Joppe und neue Schuhe. Ein Tornister wurde mir angepasst, eine Schiefertafel rein gesteckt und gespitzte Griffel dazu; dazu ein Schwämmchen noch und vorher zum Frisör. Sauber sollte es schon zugehen. Es war schon ein recht mulmiges Gefühl in meinem Bauch. Am ersten Tag ging ja noch die Mutter mit. Die mir dann auch nochmals den Weg einprägte. Meine Schultüte war nicht besonders schwer und auch von der Länge her recht angepasst. Im unteren Bereich war sie mit Papier ausgestopft, wie bei vielen anderen Tüten wohl auch. So nahmen wir dann Platz in den kleinen Holzbänken mit den vielen Schnitzereien auf der Schreibplatte. Ich meine mich zu erinnern, dass der Rektor dann seine Geige aus dem Kasten nahm und uns etwas Fidelte. Der Rektor hatte  eine Hakennase, und vermittelte mir so den Eindruck, einen alten Indianer vor mir zu haben. Der Ernst des noch jungen Lebens begann dann aber bereits in den nächsten Tagen. Mit enorm viel Gequietsche auf den Schiefertafeln wurden Häkchen geübt und Striche mit Punkten, als auch Kreise, oval wie Eier aussehend. Und zu Hause sollten wir das schön weiter üben. Das nannte sich dann, Hausaufgaben machen. Die Zeit verrann mehr oder wenige träge. Je nach des Stoffes Fülle und Interesse an demselben verliefen die Tage und die Monate und die Jahre in unterschiedlichem Phlegma dahin. Der viel gescholtene Blick aus dem Fenster wurde oft zum obersten Interessengebiet erkoren. Das hieß: sogar wenn rein gar nichts draußen los war (der Ausblick wechselte ja mit den Klassenräumen), war manches noch interessanter, als der zu lernende Stoff. Die Lehrpersonen wechselten ebenfalls: Es gab die Liebenswürdigen, es gab die Lehrbegabten, es gab die Stock schwingenden und es gab Sadisten. Oft gab es mehr Schläge, als Stöcke vorhanden waren. An Nachschub gab es freilich wenig Mangel, waren doch immer gewisse Schüler zu gerne bereit, sich dem Leben untertänig anzupassen und den Lehrern Frischware als Geschenke  darbieten. Es könnte ja im Leben von Nutzen sein? Zum Dank machte dann die persönliche Notenleiter Sprünge auf der Scala von 6 - 1. Ungeachtet dessen dümpelte ich im Mittelfeld der trägen Masse herum, bewegte mich mal mehr zu den hinteren Reihen hin, den Schnarchern, oder mal mehr zu den vorderen, den Punktesammlern. Am liebsten gefiel mir aber der Unterricht mit dem Fräulein Tigges. Geschichte war ihr Fach. Und Fräulein Tigges konnte uns wunderschön die Geschichte nahe bringen und ihre eigenen Geschichten dazu erzählen. So schön mitunter, dass sie schon gar nicht mehr wahr waren. Und wer das nicht glaubte, spürte ihre Faust auf den schulbankgekrümmten Rücken. Auf jeden Fall brachten diese Stunden Kurzweil im drögen Schulalltag. 

  

 

 

37. Leinwandbilder und anderes Theater

Immer wieder hörte ich von meinen älteren Brüdern von seltsamen Geschichten. Diese wurden in dem großen Gebäude auf der Wilhelmstraße vorgetragen. Kino sagte man dazu. Darüber wollte ich nun unbedingt mehr wissen und nervte alle mit Fragen. Da sollen also Bilder auf einer Wand erscheinen, die leben? Das kam mir schon recht seltsam vor. Nein, da konnte ich mir überhaupt nichts drunter vorstellen. Doch dann hieß es auf einmal: Morgen, am Nachmittag, läuft ein Märchenfilm. Ich durfte mit. Voller Spannung, jedoch mit ahnungsloser Ahnung, saß ich in der vordersten Reihe und harrte der Dinge, die nun bald hinter einem Vorhang erscheinen sollten. Die Lampen erloschen, der Vorhang öffnete sich. Und dann waren da plötzlich Bilder auf einer weißen Wand - und die bewegten sich sogar. Mit Erschrecken sah ich, dass plötzlich eine Tonne auf mich zurollte. Einfach so aus dem Bild heraus. Doch dann löste sich die Tonne in Nichts auf? Noch so manches Mal bekam ich einen Riesenschrecken. Doch von dem, was ich sah, war ich hellauf begeistert. Noch lange Zeit dachte ich darüber nach, wie so was funktionieren konnte. Später wusste ich: Es war ein Animationsfilm. Also ein Puppenfilm, in dem sich die Figuren mittels Stopptrick selbständig bewegen können. Um richtige Spielfilme zu sehen, hat es dann noch einige Jahre gedauert.

Zur Weihnachtszeit fuhren wir Schulklassen zu den Märchenaufführungen in den städtischen Theatern Rheydt und Mönchengladbach. Diese Veranstaltungen haben noch wesentlich mehr Eindruck auf mich hinterlassen, als die Kinobesuche. Es war der besonderen Atmosphäre wegen. Wenn das Licht ganz langsam verlöschte, legte sich eine fast heilige Stille über den Saal. Die Symphoniker im Orchestergraben stimmten die Ouvertüre an. Dann öffnete sich langsam der Vorhang und gab das Märchenreich frei. Es war das besondere Licht und die nie gesehenen Farben, die mich faszinierten. In jenen Nachkriegsjahren hatten eben nur die Blumen Farben. Alles andere war weitgehend grau. Dann begann „Der gestiefelte Kater“. In Rheydt fand die Aufführung statt, glaube ich mich zu erinnern. An dieser Märchenaufführung denke ich sehr gerne zurück. Eine andere Aufführung war, die des „Kleinen Muck“. An den „Muck“ habe ich noch viel schönere Erinnerungen. Alles war so unmittelbar, die große Bühne sog mich förmlich in das Märchen hinein. Es waren dies die ganz großen Erlebnisse meiner Kindheit, an die ich sehr, sehr gerne zurückdenke. 

  


 

38. Der schönste Tag des Lebens…?

Irgendwann schlug für jeden Katholiken die Stunde der Erstkommunion. Nun hieß es auch des Nachmittags Unterricht in der frommen Lehre zu haben. Die Heiligen der Kirche wurden ausgiebig studiert, und den Kreuzweg abschreitend im dunklen Kirchenschiff habe ich etliche Male unversehrt überstanden. Bibel und Katechismus wurden das wichtigste Werkzeug im Tornister. Leitspruch wurde die stete Ermahnung, alles auswendig zu lernen und ja die heilige Messe zu besuchen: zweimal des Sonntags, zweimal an den Wochentagen. Unterwegs, beim Jesus in seinem Häuschen an der Kölner Straße, war nun auch zweimal täglich beim Vorübergehen ein „Gegrüßtseigott“ zu murmeln, einschließlich Bekreuzigung. Wenn ich nun aber die andere Straßenseite benutzen würde, so dachte ich mir, konnte der Herr Jesus mich nicht mehr identifizieren. Mit der Grüßerei konnte man es ja manchmal auch arg übertreiben. Und fortan galt es, sich auf die Beichte vorzubereiten. Von der Last des bisherigen ausschweifenden Lebens und der damit aufgeladenen Schuld sollten wir durch entsprechende Buße ganz und gar von der Sünde befreit werden. Unterricht hatten wir beim Pastor oder beim Kaplan. Zumindest in diesem Fall ging der Kelch an mir vorüber, der Pastor war es. Das Glück verließ mich dann aber bei der Beichte. Dem Kaplan hatte ich meine gesammelten „Todsünden“ aufzusagen. Anzumerken wäre dazu, dass dem Kaplan Menschlichkeit und Liebe am Nächsten so ganz und gar abhold waren. Ein erhellendes Lachen habe ich nie in seiner Miene gesehen. Dafür sprang die fromme Spucke aus seinem Munde recht unreguliert durch die Gegend, wenn er uns verbal bearbeitete. Ich passte schon auf, davon nicht getroffen zu werden. In seinem „göttlichen“ Eifer wütend, glaubte ich doch manches Mal, den Leibhaftigen vor mir zu sehen. Wer weiß, wer weiß? 
So befreit von allem weltlichen Unrat, der meine junge Seele bisher belastet hatte, durfte ich den „Weißen Sonntag“, den Tag der Erstkommunion entgegenfiebern. Dazu musste erst mal entsprechende und der Würde des Tages angemessene Kleidung besorgt werden. Ein Bleyleanzug wurde gekauft. Dieser Stoff sollte angeblich unverwüstlich sein und wäre mindestens bis zum letzten Schultag haltbar, wurde gesagt. Falls man Glück hatte, wuchs man aber vorher raus. Dazu ein paar Lackschuhe. Darauf war ich nun echt stolz. Diese wurden über weiße Strümpfe getragen. So schick gemacht nahm das Fest seinen Lauf. Es wurde vorgekocht, Kuchen in großer Zahl gebacken, Hühner ließen wieder ihr Leben. Und alle waren etwas hektisch. Für mich hieß das, zunächst mal nüchtern bleiben, bis der „Leib des Herrn“ verinnerlicht war. Alles ging recht ernst und totfeierlich zu.

Nach dem offiziellen Teil folgte das Vergnügen. Die geladene Sippe erschien wieder in großer Zahl. Das hieß dann genau: Je mehr kommen, umso größer fallen die Geschenke aus. Nun – am Ende hieß das in Mark und Pfennig, dass der Hunderter nicht erreicht worden war. In Worten gekleidet: zweiundneunzig Mark und fünfzig Pfennige. Doch meinem Wunsche war ich nun ganz nahe: Ein Fahrrad der Marke „Vaterland“ sollte vom Ertrag gekauft werden. Dieses Jugendfahrrad war dann auch mein ganzer Stolz - endlich ein eigenes Fahrrad. Und endlich brauchte ich auch nicht mehr seitlich durch den Rahmen eines Herrenfahrrades zu balancieren. In den späteren Jugendjahren half mir dieses Fahrrad einen guten Teil meiner Sehnsüchte verwirklichen zu können. So lernte ich Teile der Eifel kennen, begleitete die Ahr bis zur Mündung in den Rhein und besuchte endlich auch den Drachenfels. In Gipfelnähe schlugen wir sogar unser Zelt auf.

     


 

39. Lesestunde

Den wirklichen Glanzpunkt meines jungen Lebens hatte ich aber im 1. Schuljahr; vielleicht war es sogar der wichtigste überhaupt. Wochen und monatelang hatten wir Buchstaben geübt. Aus Buchstaben wurden Wörter. Aus Wörtern konnte man Sätze bilden. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel gingen alle Scheinwerfer in mir an: Ich konnte lesen! Nun ließen sich aus den Sätzen Geschichten lesen, so viele Geschichten, dass sie kein Ende mehr nahmen. Zum Glück kam in der Schule bald eine Bücherei hinzu. Damit fand ich Zugang zum Buch. Die Gebrüder Grimm mit ihren Märchen belebten nun meine Fantasie, „Hauffs Märchen“ lernte ich schätzen und lieben, ebenso den H. Ch. Anders - und schließlich „Bechsteins Märchen“ im Besonderen. Dessen grauslich-gruselige Erzählungen liebte ich ganz außerordentlich. Unmittelbar auf Märchen folgten „Die Nibelungen“, „Deutsche und griechische Heldensagen“. Dann durchlebte ich die aufregende Welt von „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ am Mississippi. Später dann „Lederstrumpf“, mit dem ich mich mitten durch die Einsamkeit der wundervollen kanadischen Bergwelt träumen konnte. Im Kopf lag die Welt nun offen, die Sehnsucht blieb im Herzen.

Es war nun so, dass wir zu Hause einen erschreckenden Mangel an Büchern hatten. Zwei Gesundheitsbücher, wahrscheinlich uralt und auch noch in Frakturschrift gedruckt, dazu ein Gebetbuch. Diese gesammelten Werke ließen noch keine Begeisterung in mir wallen. An Zeitungen herrschte auch noch ein beklemmender Mangel. Doch gab es zumindest einmal die Woche die „Welt am Sonnabend“, einer frühen Urahnin der späteren „Neuen Welt“. So wurde ich schon sehr früh über Kaiserin Sorayas "Schicksalsjahre" und über den "Zoff" am holländischen Königshof aufgeklärt – und somit leidender Mitleser. 
Zum Glück kam eines Tages ein Zeitungsvertreter, der meine Eltern dazu überredete, einen Lesezirkel zu abonnieren. Aus Kostengründen hatte dieser Magazinstapel aber schon sechs Wochen auf dem Buckel, wenn er bei uns ankam. Ähnliches Alter hatte auch die Wochenschau im Jüchener Kino. Bei fünf- oder sechsmaligem Wechsel waren natürlich alle Rätsel schon gelöst, wenn der Lesezirkel bei uns ankam. Ein jeder hatte seine Fettfinger als Fingerabdruck hinterlassen. Die wenigen Fotos, die Damen mit wenig Kleidung zeigten, waren natürlich auch nicht mehr vorhanden (erotisch war zu der Zeit ja bereits alles, was über nackte Füße hinausging). Allzu lange hielt mein Leseglück aber nicht an: Die Lesemappe wurde nämlich wieder abbestellt. Zum Glück gab es die Görtz-Geschwister nebenan (vier ledige Damen, dazu zwei Kinder). Diese kauften jede Woche ganz frisch das STERN-Magazin und die HÖRZU dazu. Einen Lesezirkel neueren Datums bekamen sie obendrein. Da ließ ich mich nun nieder. Nun konnte ich mich fortan des Nachmittags nach der Schule durch die Welt lesen. Görtz Gertrud machte derweil ihre Hausarbeit und summte dabei ihre Kirchenlieder. Und so war ein jeder auf seiner Weise glücklich und zufrieden gestimmt.

 

 

 

40. Neue Zeiten

Mein Kinderleben in der Nüßerhött soll an dieser Stelle eigentlich ein Ende finden, wenn da nicht plötzlich doch noch was sehr Erwähnenswertes passierte: Die Neuzeit kam dazwischen. Die Vermarktung einer Erfindung hatte begonnen, dessen Ausmaß und Wirkung zu diesem Zeitpunkt absolut nicht voraussagbar war. Es war das Jahr 1955, wir und Deutschland würden sich von nun an verändern. 
Mein Vater erhielt aufgrund seiner Kriegsverletzung eine kräftige Nachzahlung in Form baren Geldes. Diese gab dem finanziellen Status unserer Familie einen merklichen Auftrieb. Somit konnte unser leer stehendes Wohnzimmer endlich dem Namen gerecht wohnlich gemacht werden. Das absolut ultimative Erlebnis aber war ein Fernsehgerät, das sich nun auch noch von diesem erklecklichen Sümmchen Bargeld abzwacken ließ. Es war dies das erste Gerät auf der Neußerstraße und eines der wenigen, das in Jüchen überhaupt erst in den Haushalten stand. Die Nüßerhött war von Stund’ an im Weltgeschehen eingebunden. Die Veränderungen nahmen ungeahnte Ausmaße an. Was vorher nur im Kino passierte, wo die Leute sich beim Heimatfilm die Stühle mitbrachten, weil das Kino übervoll war, passierte nun bei uns. Allabendlich lagen nun Anmeldungen vor. Mangels Raumangebot konnten wir uns aber eine gewisse Auslese erlauben. Fernsehen verdirbt den Charakter, das war schon damals zu erahnen. So saßen wir schon in froher Erwartung harrend vor der „Glotze“, wenn auch nur das Testbild auf der Mattscheibe flimmerte. Doch so nach und nach wurde die Flimmerkiste auch in anderen Haushalten zum Mittelpunkt. Prompt endete nun das „Gedankenkino“ abends vor den Haustüren. Die Olympischen Winterspiele in Cortina `d Ampezzo waren wichtiger, und die Lacher hatte nun der Millowitsch auf seiner Seite. Vorbei waren die Helden- und Lügensagen, die Schlachten des 1. und 2. Weltkrieges; aber auch die kleinen, verbalen Gemetzel unter den Nachbarn. Und damit war der Punkt erreicht, wo das gesellige Nachbarsleben in Deutschland im Allgemeinen und in der Nüßerhött im Besonderen endgültig verlustig ging.

 

 

Adieu Kinderzeit…

Damit soll die Geschichte meiner Kindheit hier auch enden. Bald würde der Sprung von der Kindheit zur Jugend beginnen. In Amerika sollte in absehbarer Zeit ein gewisser Elvis Presley sein Land, die Welt und uns verrückt machen. Und die Zeit, die nun vor mir lag, würde ebenso spannend sein, als die meiner Kindheit. Der Muff der Nachkriegszeit verschwand etwa zeitgleich mit meinem Wechsel in die  Frühjugendzeit. Das Wirtschaftswunder streckte die Fühler heraus und ließ auch die Nüßerhött nicht ungeschoren davon kommen. Alles war im Aufbruch. Doch das wäre eine andere Geschichte... 


E  n  d  e

 

 

 Nachtrag 

Was ist geblieben...? Die Neußerstraße heute hat mit der „Nüßerhött“ meiner Kindheit so gut wie gar nichts mehr gemein. Östlich, Richtung Gierath, wurde ein großes Industriegebiet angesiedelt. Vom Abenteuerspielplatz "Bahndamm" ist kaum noch was geblieben. Die Wiese des Bauern „Köppel“ ist ebenso verschwunden, wie die des Bauern „Schauter“. Ein riesiges Neubaugebiet breitet sich aus. Die Nüßerhött ist nun eingeschlossen, wie einst Berlin mit seiner Mauer. Den Blick auf die Kelzenberger Kirchturmspitze haben Neubauten ausradiert. Ein großer Kreisverkehr teilt die Straße nun, und der Verkehr rauscht zur nahen Autobahn. Die Firma Schwartz & Klein hat ihr Dasein als Textilfirma bereits vor sehr vielen Jahren aufgegeben. Hinter Bahndamm und Autobahn ist ohnehin luftleerer Raum entstanden. Da hat der Braunkohleabbau Totalität bewiesen. Die unmittelbar angrenzenden Dörfer Elfgen, Belmen, Garzweiler und Priesterath sind längst aus der Geschichte getilgt. Das große Loch, das die Bagger hinterließen, ist bereits wieder zum Teil verfüllt. Die Bauernschaft Herberath hat ebenfalls ihren Inselcharakter eingebüßt. Einzig die Bresserwiese ist noch da. Doch nun sind auch die restlichen Bäume "unseres Waldes" weg.

Meine Nüßerhött, meine Heimat, meine Kindheit ist nun ausgelöscht. Was bleibt, das sind die Erinnerungen. Es war einmal... 

Im März 2012 

 

Der Autor