Die Begegnung 

Eine kleine Liebesgeschichte, die ein halbes Jahrhundert reifen muss - zwischen Köln und Amerika.

  

Eintönig ziehen die Bilder vorüber. Peter streicht sich gähnend über das gelichtete Haupthaar. Wieder und wieder senken sich seine Augenlider... und versinkt in Tagträume.  

Peter Kramer ist auf der Rückreise von einem Kurzurlaub in der Fränkischen Schweiz. Er mag diese ruhige, wellenförmige Landschaft Oberfrankens sehr gerne. Die vielen kleinen Hausbrauereien dort mit ihren gemütlichen Brotzeiten liebt er ebenso sehr, als auch die bodenständige Lebensart der Franken. Der ICE wird ihn in wenigen Stunden wieder zu seinem Wohnort Köln zurückbringen. Als freier Mitarbeiter seines ehemaligen Arbeitgebers schreibt er ab und an kleine Reiseberichte; es juckt eben immer noch in den Fingern. So bleibt der Verstand rege, sagt er sich, und das Grübeln kann so auch übertüncht werden. Seit einiger Zeit plagen ihn die Zipperlein. Gelenkschmerzen melden sich des Öfteren nun, aber auch ein Hauch von Resignation hin und wieder. Seinen siebzigsten Geburtstag wird er in Kürze feiern müssen. Nein, klagen mag er nicht über den Verlauf seines bisherigen Daseins. Als Redakteur bei einer Tageszeitung ist ihm nie Langeweile zuteil geworden. Beliebt war er aufgrund seines ausgeglichenen Wesens durchaus, und Freunde hatte er schon einige. Aber verheiratet, das war Peter nie. Versuchungen gab es schon, einer festen Bindung zuzustimmen; doch irgendetwas in seinem Inneren sagte dann stets, nein. Nun ist er bereits einige Jahre aus seinem Beruf heraus, reist viel, wenn auch nicht durch die Welt. Eher behagt ihm das überschaubare Europa mit seinen vielen versteckten Winkeln und Kleinoden. Er muss sich eingestehen, dass er immer Suchender gewesen ist. Doch wonach hat er eigentlich gesucht? Während die Landschaft nach hinten weg flieht, werden seine Augen immer schwerer… 

  
Es ist ein herrlicher Hochsommersonntag, der sich nun zum Abend hinneigt. Nicht mehr ganz leichtfüßig steigen sie die Stufen zu den Bahnsteigen des Kölner Hauptbahnhofs an: Herbert, Karli, Heinz, Berti und Peter - allesamt Jugendfreunde. Die Freundesgruppe ist in bester Stimmung. Gemeinsam waren sie heute auf dem Rhein unterwegs. Mit Bahn und Schiff nach St. Goar und zur Loreley. Die Loreley wurde nicht nur ausgiebig besungen, sondern es wurde ihr auch kräftig zugeprostet, mit Wein, der an den Hängen dieses berühmten Flusses sein Wachstum hat. Ein großer Trinker war Peter wohl nicht mit seinen kaum 20 Lebensjahren - deshalb nun auch die etwas wackeligen Beine. Die noch kraftvolle Abendsonne an diesem flirrenden Augustsonntag des Jahres 1954 schmerzt seinen Augen, wenn ihre Strahlen das rußgeschwärzte, an vielen Stellen beschädigte Dach über der großen Bahnhofshalle durchbrechen. Schnaufend und prustend und mit viel Gekreische schieben sich die Züge von der Hohenzollernbrücke kommend in die große Gleishalle. Die Dampflokomotiven gebärden sich wie Geschöpfe aus urgeschichtlicher Zeit. Peter sieht diesem Schauspiel immer voller Faszination zu. Seine Freunde sind derweil schon in den bereitstehenden Zug gestiegen. Zum Niederrhein müssen sie allesamt. Ein kleiner Ort, wo jeder Jeden kennt; und das war dort schon immer so.  

Ein plötzlicher Stoß in die rechte Kniebeuge lässt ihn in die Hocke gehen. Die spitze Kante eines schweren Koffers ist die Ursache. „Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung, ich bin so in Eile… habe ich sie etwa verletzt?“ Peter wendet sich langsam um und blickt zu einem weiblichen Wesen hoch. Das heißt, eigentlich blickt er in zwei Smaragde. „Diese Augen… was sind das nur für Augen?“, schwirrt es in Peters Kopf. Endlos tiefe, grünfarbene Augen. Der genossene Wein und dann dieser Anblick sorgen augenblicklich für beschwingte Unruhe in seinen Gedanken. „Ich muss den Zug nach Hamburg erreichen, aber bei dem Gedränge hier komme ich mit meinem schweren Koffer nur langsam voran“, spricht ein wohlgeformter Mund zu ihm. „Aber nein, sie haben mir nicht weh getan“, sagt Peter und kommt aus der Hocke hoch. Nun auf fast gleicher Höhe blickt er direkt in diese Augen und spürt dabei ein Kribbeln, so wie es vielleicht nur einmal im Leben geschieht. Dabei kommt er ihr so nahe, dass er den etwas hastigen Atem deutlich auf seinen Wangen spürt. Zwei winzige Grübchen in einem jugendlichen, fast mädchenhaften Gesicht, das durch dunkelblondes, bis auf Kinnhöhe reichendem Haar umschmeichelt wird. Ein blaufarbenes Kostüm schmiegt sich über einen wohlgeformten Körper. „Darf ich ihnen behilflich sein…, ich habe noch ein paar Minuten Zeit…“, stottert Peter zu der “Fata Morgana”. Die leicht erschöpft wirkende junge Frau mustert ihn nun auch wohlwollend. Hat Peter doch ein durchaus passables Äußeres: fast hellblondes Haar, blaugraue Augen; und unter dem weißen Hemd wölbt sich ein sportlicher Körper. „Ja“, antwortet sie, “wenn sie möchten”. “Doch Vorsicht, der Koffer hat ein ordentliches Gewicht“. Das hat er tatsächlich und Peter wundert sich, woher diese graziöse Person die Kraft nimmt. Sie fühlt seine Verwunderung: „Ich komme vom Lande, aus dem Bergischen, da haben alle Frauen Kraft“, indem sie lachend die Stufe zum Zugabteil hochsteigt. Peter schiebt den Koffer in den Gang. „Wohin soll es denn gehen?“ “Zunächst mal nach Hamburg… habe noch eine lange Reise vor mir“, sagt das schöne Wesen. „Nun möchte ich mich aber für ihre Hilfe bedanken“ und streckt Peter die Hand entgegen. „Ich heiße Monika Mann!“ „Peter Kramer, ist mein Name“ und umfasst dabei ihre Hand. Diese hat einen angenehmen, festen Druck. „Bitte einsteigen und Türen schließen“, ruft es vom Bahnsteig her. Noch leicht benommen lässt Peter ihre Hand los. Er spürt auch, dass sie seine Hand eher zögernd loslässt, so als wolle sie mitteilen, dass sie nun zu einem großen Abenteuer aufbricht, dem sie sich nicht ganz gewachsen fühlt „Ich wünsche ihnen eine gute Reise, Monika. Vielleicht sieht man sich mal wieder… ich würde es mir sogar sehr wünschen“. „Danke, das würde ich auch gerne! Doch… daraus wird wohl nichts werden“, sagt Monika Mann mit einem etwas leicht traurigen Unterton in der Stimme. Etwas hastig versucht sie die schwergängige Scheibe des Waggons herunter zu ziehen. „Wo werden sie wohnen, wo kann ich sie erreichen?“, schreit Peter gegen das nun einsetzende Rumpeln und Gezische der Lokomotive an. Die Räder der schweren Maschine drehen bei der Anfahrt durch und stören dabei jede weitere Unterhaltung. Aus der Form ihrer Lippenstellung glaubt er ein „Am…“ zu hören, was immer das auch heißen mag? „Bitte einsteigen“, schallt es jetzt auch von der anderen Bahnsteigkante her. Peter steigt zu seinen Freunden in das Abteil und lehnt sich aus dem Fenster. Dass sein weißes Hemd dabei vom vielen Kohlenruß ganz schwarz wird, stört ihn nicht sonderlich. In ihm leuchten nur noch zwei grüne Augen, die sich nun mehr und mehr irgendwo vorne in der einsetzenden Dämmerung verlieren. Er weiß, dass er sich soeben rettungslos in etwas Flüchtiges verliebt hat. 

 
Immer wieder in den Jahren danach erinnert Peter sich an dieses Erlebnis. Als er später als Redakteur in Köln ansässig wird, versucht er anhand umfangreichen Adressmaterials den Namen „Mann“ im Bergischen Land ausfindig zu machen. Es gibt zwar Namensgleichheiten, doch bei seinen Recherchen stößt er immer wieder ins Leere. Die Jahre vergehen, doch in Peters Inneren leuchtet dieses Augenpaar weiter. Es hat sich fest eingebrannt.  
 
…ein Stoß gegen sein Bein lässt Peter aus seinen Träumen hochschrecken. „Entschuldigen sie bitte… mein Koffer… aber ihre Beine ragen zu sehr in den Gang hinein“. Peter versucht sich zu orientieren. Soeben verließ der ICE den Frankfurter Flughafenbahnhof. Der Zug gewinnt rasch an Fahrt. „Richtig, ich muss ja nach Köln“, meldet sich sein Verstand zurück. Die Entschuldigung kommt von einer etwas schwer atmenden Dame mit deutlich amerikanischem Akzent, die nun vor ihm Platz nimmt. Ihr Haar hat grauweiße Strähnen und das geschätzte Alter liegt wohl einige Jahre über die Sechzig. Ihr Gesicht jedoch hat noch eine eher jugendliche Fülle. “Sie muss mal sehr schön gewesen sein“, denkt Peter, als er sein Gegenüber nun interessiert betrachtet. Ein fast faltenloses Antlitz; nur um den Mund furchen ein paar Kummerfalten. Die Augen hält sie mit einer leicht getönten Sonnenbrille bedeckt, obwohl draußen eher dunkles Wetter vorherrscht. "Jaja, meine Beine, die waren mir schon immer irgendwie im Wege" versucht Peter ein Gespräch zu beginnen. Auf ihren Wangen werden zwei Grübchen sichtbar, als sie nun lächelt. Sie scheint seine Gedanken zu erraten: „Die Brille trage ich nicht der Sonne wegen, sondern meine Augen sind lichtempfindlich.“ „Eine Krankheit?“, fragt Peter. „Eher eine Nervensache, meint mein Arzt“. „Aber ich will sie nicht weiter belästigen... sie sind wohl müde“. „Nein, nein“, erwidert Peter, „ich höre gerne Menschen zu, besonders, wenn der Gesprächspartner mir sympathisch ist“. „Vielen Dank! An meiner Aussprache haben sie wohl schon erkannt, dass ich Amerikanerin bin. Genauer gesagt, ich komme aus Portland, Oregon, hoch im Nordwesten der USA. Oregon ist ein sehr schöner Staat, mit großen Wäldern und hohen Bergen“. „Persönlich war ich noch nicht dort, doch ich habe sehr viel Reiselektüre gelesen, deshalb kann ich mir von ihrer Heimat auch ein gutes Bild machen“, erwidert Peter. „Ich möchte mich vorstellen, mein Name ist Peter Kramer und lebe in Köln“. Einen Augenblick lang scheint sie etwas irritiert, doch dann entgegnet sie: „Ich heiße Monika Miller. Die Großeltern meines Mannes hießen noch Müller und stammen aus Deutschland. Ich selber bin auch deutschstämmig. Mit siebzehn Jahren wanderte ich nach Amerika aus. Verwandte holten mich derzeit rüber“. „Entschuldigen sie meine Neugier, aber gab es einen Grund für das große Amerika-Abenteuer?“ „Ja, ich war vollkommen alleine in Deutschland. Mein Vater ist an der russischen Front gefallen“. Ich habe kaum Erinnerungen an ihn, nicht mal ein Foto. Nur seine leuchtend grünen Augen sind in meinem Gedächtnis haften geblieben. Meine Mutter hat den Verlust nie überwunden. Sie war eine sehr schöne Frau“, murmelte die Dame nun mehr zu sich selber. „An meinem 16. Geburtstag habe ich sie das letzte Mal gesehen. Gefunden wurde sie nie.“ Peter war fast geneigt, ihre Hand zu nehmen – zog sie dann doch wieder zurück. Sie hielt kurz inne, um dann fortzufahren: „Bei meinen Verwandten drüben lernte ich meinen späteren Mann kennen. Ein Jahr nach unserer Hochzeit bekamen wir unsere Tochter Sandra. Mein ein und alles! Sie sah so aus, wie ich selbst als junges Mädchen - fast mein Ebenbild. Sandra war eine leidenschaftliche Bergsteigerin. Sooft es ihr möglich war, stieg sie durch die Berge Oregons. Das Unheil geschah 1974, an einem schönen Spätsommertag: Sandra sei in eine Schlucht gestürzt - 300 Meter tief, lautete die Nachricht. Hoffnungsvolle 16 Jahre war sie jung!“ Nun ergriff Peter doch ihre Hand und drückte sie stumm. Sie schwieg einen Moment… „Doch das Leben zeigte kein Mitleid mit mir. Mein Mann war Geologe, und das mit Leidenschaft. Ich möchte fast behaupten, er war verheiratet mit seinem Job. 1980 dann, während des großen Ausbruchs des Mount Saint Helens kam er um. Kurz und schlecht, es dauerte viele Jahre, bis ich wieder ein halbwegs lebensfähiger Mensch wurde. Nein, Amerika hat mir kein Glück gebracht.“ Peter glaubte etwas Feuchtes hinter den Gläsern ihrer Brille zu bemerken. „Der Grund meines Besuches in Deutschland, ich möchte etwas über meine Wurzeln erfahren. Es ist das erste Mal seit meiner Überfahrt, dass ich mein Heimatland wieder besuche. Beginnen möchte ich nun in Köln. Dort hatte ich das letzte schöne Erlebnis. Damals war ich sogar einen kurzen Moment unsicher, die Reise überhaupt anzutreten. Ein winziger Augenblick in meinem Leben hatte für Verwirrung gesorgt“. „Erzählen sie doch bitte weiter“, meinte Peter. Entschuldigen sie meine Neugier, doch beruflich war ich Redakteur einer Zeitung, und diese Sorte Mensch will ja alles wissen, lacht Peter."  „Nun, schöne Geheimnisse sollte man für sich behalten“, antwortete Monika Miller. Sie schaut ihn dabei fest in die Augen. Peter glaubt, eine gewisse Unruhe zu verspüren, ihre Hände zittern ein wenig. „Wie war ihr Name noch mal… Peter Kramer?“ Murmelnd wiederholte sie den Namen... „Sagen sie, Herr Kramer, da sie schon mal in Köln wohnen, würden sie mir in den nächsten Tagen etwas von ihrer Stadt zeigen?“ „Aber doch, das würde ich sogar sehr gerne, sie sind mir herzlich willkommen, und Zeit habe ich mehr als genug, als Alleinstehender“.  
Fast unhörbar gleitet der ICE in den Bahnhof ein - Köln ist erreicht. „Übrigens“, sagt sie und berührt dabei Peters Hand, „als ich das letzte Mal auf diesen Bahnsteig stand, genau hier, an einem strahlend schönen Sommerabend des Jahres 1954, da hieß ich noch Monika Mann.“ Während sie das sagt, nimmt sie ihre Sonnenbrille ab. Zwei smaragfarbene Augen leuchten Peter an…  

  

  

ENDE