Das Lied der Kastanien. 

 

Die Geschichte schildert eine fast heitere "Mordgeschichte", die im Umkreis des Schloss Dyck am Niederhein ihre Aufführung findet.

Mittelpunkt ist die kleine Anna.

  

 

Die ersten großen Herbstwinde rauschen über den  flachen Niederrhein hinweg, die alten Kastanienbäume ächzen und stöhnen, die Kronen wiegen und biegen sich, Raunen erfüllt die Luft, Früchte prallen zu Boden und brechen aus ihrer stacheligen Schale; und inmitten der tosenden Natur, die kleine Anna.  

 

Flink wie ein sommerlicher Wirbelwind springt sie zwischen den runzeligen Stämmen hin und her. „Rüüttel mich, schüüttel mich, mein Geheimnis kriiegst du nicht“, raunt es ihr bei jedem Windstoß aus den mächtigen Baumkronen entgegen. Ja, die Anna hat schon eine ausgeprägte Fantasie. Sie lässt die Bäume singen, was immer auch der Herbstwind darauf instrumentieren mag. Und die Anna jauchzt eins ums andere Mal zurück: „Rüttel mich, schüttel mich, mein Geheimnis kriegst du aber auch nicht“, und reckt dazu lachend ihre kleine Faust zum mächtigsten dieser Bäume hoch.  

 

Den großen, neugierigen Knopfaugen entgeht fast keine Kastanie. Über ihre kleinen Schultern baumelt quer ein Stoffbeutel. Rasch füllt dieser sich mit den herbstlichen Genüssen. „Aua“, schreit die Anna, wenn der Wind mal wieder eine geschlossene Frucht in das dichte, blonde zu Zöpfen gebändigte Haar trägt. Die zierlichen Finger stecken schon voller kleiner Stacheln. Doch sie denkt an den herrlichen Duft gerösteter Kastanien, die sie am Abend eine nach der anderen verkosten will.  

 

Anna ist ein aufgewecktes Kind mit ihren acht Jahren; und dabei gar kein bisschen ängstlich. Ihre Mutter im nahen Dorf macht sich deshalb auch keine allzu großen Sorgen, ist doch hier im überschaubaren Kreise noch nie etwas passiert. Oder vielleicht doch…?  

 

Vor wenigen Jahren verschwand urplötzlich diese junge Russin.  Während des Krieges war die junge Frau als Fremdarbeiterin dem Gut Helpenstein zugeteilt. Und später, als friedvollere Zeiten anbrachen, blieb sie einfach dort. Die Irina war beliebt, sehr beliebt sogar; wenn auch fast ausschließlich beim männlichen Teil der Dorfbewohner. Sie war eine Schönheit. Dessen war sie sich durchaus bewusst. Selbst für den unattraktivsten Mann hatte sie noch ein Lächeln über. Doch dann verschwand sie urplötzlich, einfach vom Erdboden verschluckt. Der weibliche Anteil nahm das Verschwinden eher mit heiterer Gelassenheit, doch auch mit einem Aufatmen zur Kenntnis. Beim männlichen Geschlecht hingegen erzeugte der Name Irina auch in späteren Jahren noch für seliges Leuchten in den Augen, im Dorfgasthof, bei vorgerückter Stunde, beim vorvorletzten Bier. 

 

Der Anna fehlte all’ dieses Wissen natürlich. Wenn sie über die lange Baumallee tollte, die hier das verwunschen daliegende Wasserschloss Dyck mit dem Nikolauskloster verbindet, wurde ihr so manches Mal eine fremde Gestalt gewahr, die ruhelos unter den Bäumen dahin schritt. Eine männliche Gestalt, gehüllt in einer langen, derben Jacke, die Kappe stets tief über die Ohren gezogen, den Mantelkragen hoch ins Gesicht gestellt. Für einen Moment hielt diese Gestalt dann stets inne und wandte einen kurzen Blick zur Anna hin. Ein Ausdruck klagender Traurigkeit bemerkte sie in den Augen des Unbekannten; aber dann doch wiederum mit dem Hauch eines Lächelns behaftet.  

 

Der heutige Tag jedoch sollte sich tief in das junge, noch unbelastete Leben der Anna einprägen. Als sie die mächtigste der Kastanien erreicht und soeben ihr lustig trotziges „Rüttel mich, schüttel mich…“ anstimmt, stockt sie mitten im Gesang und ihr kleines Herz fängt mächtig zu pochen an. Ein langes Seil schaukelt straff im Winde, und daran wiegt jene Gestalt, die sie stets so traurig, so stumm angeschaut. Die Kappe hängt nun schief über das Gesicht, und das noch sichtbare, weit aufgerissene Auge blickt starr zu ihr runter. Wie gesagt: ein ängstliches Mädchen ist die Anna nun beileibe nicht, doch nun entfernt sie sich mit eilig trappelnden Schrittchen vom Ort des Grauens, ohne sich auch nur noch einmal umzuschauen. Wir schreiben das Jahr 1953. 

 

Viele Winde sind durch die alte Kastanienallee gerauscht, nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Und vor mehr als einem halben Jahrhundert war die Anna mit ihren Eltern ins Norddeutsche verzogen. Dort in Ostseenähe fühlte sie sich so recht wohl, weil der Wind da zuweilen noch mächtiger pustete, als in der vertrauten Heimat. Später fand die große Anna dort ihr Glück; welches sie dann auch heiratete. Nie mehr war sie zurückgekehrt zum Dorf, zum Schloss, zur Kastanienallee. Das schaurige Drama ihrer Kindheit hatte die Anna mit den Jahren verdrängt.  

 

Warum, das wusste sie nicht so genau, doch irgendetwas im Innern Annas forderte sie dazu auf, die Heimat ihrer Kindheit aufzusuchen. Ihre jüngste Enkeltochter, die Paula, nahm sie mit auf die Reise zum Niederrhein. Unterkunft fanden beide im Dycker Weinhaus. Zu Kindertagen war Anna dort mit ihren Eltern an den sommerlichen Sonntagen eingekehrt. Danach folgte stets der gemeinsame Spaziergang unter den mächtigen Buchen des großen, alten Schlossparks. Jungverliebte schnitzten gerne Herzchen mit dem Namen der Allerliebsten in die Baumrinde.  

 

Doch nun war um die gesamte Parkanlage ein Zaun errichtet.  Beim nostalgischen Parkgang entdeckt Anna dann sogar ihren Namen an einer der riesigen Buchen. Im kindlichen Übermut hatte sie ihn eingeritzt, damals. Nun war dieses „Anna“ aufgequollen wie ein Krustenbrot. Um die Kastanienallee herum war nun ebenfalls in Gänze einen Zaun gezogen. Gesperrt! Zum Schutze der Bäume, aber auch zum Schutze der Menschen.  

 

Die Nacht über hatte ein heftiger Herbststurm das Land gebeutelt; und mancher Baum hatte den Tag so nicht mehr in aufrechter Haltung begrüßen dürfen. Anna und die kleine Paula wandern am Zaun der Allee entlang, Richtung Kloster. Beide füllen ihre Taschen mit den herübergewehten Kastanien. Plötzlich kommt Anna das Lied aus fernen Kindheitstagen in den Sinn. Erst nur ein wenig summend, dann jedoch aus voller Kehle: „Rüttel mich, schüttel mich, mein Geheimnis kriegst du nicht.“ „Was singst du denn da, Omi?“ belustigt sich die kleine Paula. „Hörst du denn nicht, was die Bäume dir zuraunen im Winde?“, spricht Anna zu ihrer Enkelin - und schaut sie dabei mit einem geheimnisvollen Blick an. Doch schon wird das Interesse beider auf etwas anderes gelenkt: „Omi, schau mal dort, was ist das?“ Anna sieht, dass der alte, mächtige Baumriese ihrer Kindheit in der vergangenen Nacht umgestürzt ist. Die mächtigen Wurzeln ragen wie klagend in den bleigrauen Herbsthimmel. Doch das Schaurigste bemerken sie erst jetzt beim Näherkommen. Skelettteile sind durch die hochschnellenden Wurzeln empor gerissen worden und liegen nun verstreut umher, einige haben sich in den Wurzeln verfangen. 

 

Ein dicklicher Mensch eiert auf seinen unförmig breitgetreten Schuhen, die satte 130 kg zu tragen haben, auf der Allee entlang. Man hört ihn schimpfen. Das Pfeifen seines Atems ist kaum vom noch immer heftig pustenden Wind zu unterscheiden. Seines Ganges wegen hat er bei den Kollegen den Spitznamen „Kommissar Eiermann“ erhalten.  

 

„Gestatten, Kommissar Weiermann! Und wer sind sie?“ „Ich bin die Anna Maybaum… und das ist meine Enkelin, die Paula. Wir sind hier auf Kurzurlaub. Die Leiche, ich meine das Skelett, ist von uns entdeckt worden.“ „Hier deutet wohl alles auf ein Gewaltverbrechen hin“, murmelt Weiermann. Unter den Wurzeln entdeckt er die Fetzen einer Ledertasche. Darunter findet sich eine flache, angerostete Zierdose. Neben einem Ring, einem goldenen Halskettchen mit Kreuz, sowie einigen D-Mark Scheinen, befindet sich auch noch ein kleines Notizbuch. Die Jahreszahl „1949“ ist auf dem Deckel eingeprägt. Beim Aufblättern wird ein Name sichtbar: „Irina“! Auf einer weiteren Seite, teils mehr, teils weniger gut lesbar, ein gutes Dutzend weiterer Namen. „Mir bleibt wohl nichts erspart, nun darf ich auch noch antike Gräueltaten aufklären“, brummelt Weiermann ärgerlich. „Wie lange bleiben sie in der Gegend, Frau Maybaum?“  „Ich beabsichtige etwa eine Woche im Dycker Weinhaus zu bleiben. Meine Kindheitserinnerungen möchte ich etwas auffrischen und dabei meiner Enkeltochter zeigen, wo ich als kleines Mädchen gelebt und gespielt habe.“ „Der Auftakt hierzu ist ja schon recht heftig“, meint Weiermann. „Frau Maybaum, ich werde mich dann in den nächsten Tagen bei ihnen wieder melden.“  

 

Ein paar Tage weiter, erscheint der Kommissar im Dycker Weinhaus. „Genauere Untersuchungen haben ergeben, dass es sich tatsächlich um ein weibliches Skelett handelt. Kleinere, nicht zuzuordnende Skelettfragmente weisen darauf hin, dass die Person bei ihrem Ableben schwanger war.“ Anna kommt nun ihr Kindheitstrauma wieder voll zu Bewusstsein. Der Baum, der Strick, das weit aufgerissene Auge… Es fällt ihr nicht leicht, darüber zu reden. „Ich habe nun fast alle Namen entziffern können“, meint Weiermann. Er holt seine Notizen aus der Manteltasche und liest sie vor.  Anna geht mit ihren Gedanken weit zurück, versucht sich zu erinnern. „Ich war noch sehr jung damals…, doch, ja, ich erinnere mich, dieser Wilhelm Breuer, der wohnte unserem Haus schräg gegenüber. Die anderen Namen sagen mir momentan nichts. Falls dieser Breuer noch leben sollte, dürfte er aber schon recht betagt sein“, wendet Anna noch ein. Nun erwacht in Weiermann das Jagdfieber.  

 

„Weiermann, mein Name. Sind sie Wilhelm Breuer?“ Ein gebückter alter Mann, jedoch durchaus noch rüstig wirkend, fegt mit einem Besen das Herbstlaub vor seinem Haus zusammen, schaut nun etwas belustigt hoch: „Betteln und Hausieren verboten, können sie nicht lesen? Eier haben wir auch noch genug, falls sie solche verkaufen wollen.“ „Nein, nein, mein Name ist Weiermann, Kommissar Weiermann.“ „Ach so! Habe ich was Unanständiges verbrochen?“, schaut der alte Wilhelm neugierig grinsend. „Deshalb bin ich hier, um das herauszufinden“, blinzelt Weiermann etwas windschief. „Worum es geht, dürften sie schon aus der Presse erfahren haben“. „Ach, sie kommen wohl wegen des Gerippes auf der Kastanienallee?“ „Genau! Ihr Name befindet sich im Notizbuch der Toten. Es ist zwar sehr lange her, doch möglicherweise ist damals ein Mord geschehen und das Gerippe hieß zu der Zeit wohl Irina“, provoziert der Kommissar - und schaut Breuer dabei durchdringend in die Augen. „Wilhelm, wer ist denn da?“, krächzt eine Stimme aus Richtung des Fernsehers im Wohnzimmer. „Ist das der Eiermann?“ „Nein Trudi, schlaf ruhig weiter, es ist nichts“ grummelt Wilhelm. „Psst, nicht so laut, Herr Kommissar, meine Frau braucht von der Geschichte nichts zu wissen. Zu jener Zeit damals war ich ja schon verlobt… doch die Irina, das schöne Russenweib, hat mir damals ganz schön den Kopf verdreht. Na ja, man ist ja nur einmal jung, und da lässt man so schnell nichts anbrennen.“  Da muss selbst Weiermann grinsen, war er doch auch mal schlank und rank und auch gar kein Schwerenöter. „Aber“, spricht Breuer weiter, „die halbe männliche Jugend war derzeit recht kopflos“, und zwirbelt dabei innerlich vergnügt die Enden seines Bartes. “Aber auch die reiferen Jahrgänge, obwohl chancenlos, zeigten gieriges Interesse“. Breuers Gesichtsausdruck zeigt sich dabei wehmütig verklärt. „Schauen sie sich meine Namensliste einmal genauer an, wer könnte an das Ableben dieser Irina ein gewisses Interesse gehabt haben, Herr Breuer?“ Er schiebt die Brille auf seiner Nase zurecht und liest die Namen aufmerksam durch. „Ach Gott, eine Menge Leichen sind hier aufgeführt, eh, ich meine, es sind schon viele verstorben. Der Hugo lebt nicht mehr, auch der Franz nicht; der Jupp und der Johannes sind auch schon tot, die beiden Gottschalk-Brüder haben sich bereits in jungen Jahren totgefahren; der Hein Berger und auch der Peter Hurtz sind erst kürzlich verstorben.“ „Und was sagen ihnen die restlichen Namen, Herr Breuer?“ „Wenig! Vom Schloss könnte möglicherweise einer dabei sein. Doch darüber wurde nur gemunkelt. Auch im Kloster soll man nicht ganz keusch gewesen sein… sagte man?“ „Interessant, interessant, was sich auf dem Lande so alles abspielt“, räuspert sich der Kommissar.  „Aber hier, der Name ganz unten, dazu fällt mir schon was ein. Dieser Friederich vom Gut Helpenstein, der hatte schon eine Menge mit der Irina zu tun. Die Frau war dem Gut zugeteilt; und ist auch nach dem Kriege noch dageblieben. Das hatte mit dem alten Helpenstein zu tun, der war hinter allem her, was besser aussah, als seine eigene Frau. Wofür man aber schon ein gewisses Verständnis aufbringen konnte. Diesen Drachen habe ich noch gut in Erinnerung.“ Während er das so sagt, muss Breuer doch herzlich lachen. „Reden sie ruhig weiter, ich bin ganz Ohr“, unterbricht Weiermann. „Ja, und was den jungen Helpenstein betrifft… der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Auf Gut Helpenstein wurden die Betten nicht so schnell kalt.“ „Sie würden den beiden also möglicherweise zutrauen…?“ sieht Weiermann fragend zu Breuer hin. „Es hieß damals, die Irina sei schwanger. Sie selber soll dann mal geäußert haben, dass der junge Friederich daran nicht unschuldig sei? Am besten, sie fragen ihn doch einfach selbst.“ „Der lebt noch?“, schaut Weiermann überrascht. „Oh ja! Und er ist sogar putzmunter. Der eigenen Schwiegertochter soll er sogar schon nachgestellt haben“, grinst Breuer. „Allerdings ist er ist nicht mehr so ganz richtig im Kopf. Seitdem er betrunken vom Mähdrescher gefallen, und von diesem dann überrollt wurde, hat er einen kleinen Dachschaden. Aber wie gesagt, sonst ist er noch ganz vital.“  „Danke, Herr Breuer, nichts für ungut, aber möglicherweise kläre ich einen Mord auf, und Mord verjährt nun mal nicht.“ 

 

Es hat angefangen zu regnen. Der Wirtschaftsweg zum Gut, das auf einer leichten Anhöhe thront, ist mit schmierigem Ackerboden bedeckt. Die aufgewirbelten Brocken klatschen gegen die Kotflügel des Dienst-Golfes. Eine Mistkarre mit dampfendem Inhalt versperrt Weiermann den Weg. „Hallo, ich möchte zu Friederich Helpenstein“, ruft Weiermann einen daher schlurfenden Alten zu. „Was bist du denn für einer?“, meint der Alte und streicht sich dabei die triefende Nase am Jackenärmel ab. „Weiermann, Kommissar Weiermann von der Mordkommission.“ „Hier wird niemand ermordet, das müsste ich ja wissen. Ich bin der Alte Fritz und habe hier alles im Griff.“  „Nun gut, wenn sie der Friedrich Helpenstein sind, dann können sie sich ganz bestimmt an eine Irina erinnern, die hier einmal gearbeitet hat?“ „Welche Trina?“ „Irina“, wiederholt Weiermann, „diese junge Russin, die im Kriege hier gearbeitet hat. Fällt der Groschen?“ „Ach die! Die wollte doch ein Kind von mir, das Luder. Dann hatte sie plötzlich einen dicken Bauch und meinte, dass wir nun heiraten müssten. Da war mein Alter aber stinkig. Dabei hatte die Irina doch immer die Betten bei ihm aufgeschüttelt.“ „Und“, hakt Weiermann nach, „wer ist denn nun der Vater?“ „Wer weiß, wer weiß, die Irina war immer heiß. Frage doch mal bei den schwarzen Teufeln nach.“ „Welche schwarzen Teufel?“, schaut Weiermann verwundert. „Na, die im Kloster, die hatten die Hände auch nicht nur zum Beten da“, grinst der Alte. „Das wird ja immer schöner“, greift Weiermann sich an den Kopf. „Lebt das Russenmädchen denn noch in der Gegend?“, schaut Helpenstein nun erwartungsfroh?“ „Nein, ganz sicher nicht, deshalb bin ich ja hier. Sie wurde die Tage in der Kastanienallee gefunden, als Skelett. Damals wurde sie dort verscharrt, als sie schon schwanger war.“  Ich schwöre auf alles“, schlägt Helpenstein sich an die Brust, „damit habe ich nichts zu tun.“ „Wir werden sehen“, sagt Weiermann, „doch schauen sie mal auf meine Namensliste, wer könnte A. Gr. sein? Oder wer P. Hubertus?“  Helpenstein schiebt sich die Mütze im Nacken… „den einen kenne ich nicht! Aber dieser P. Hubertus, da steckt der Pater Hubertus vom Kloster hinter. 

 

Kommissar Weiermann lenkt seinen Golf in den Klosterhof. 

 

Die Sonne schickt gerade ein paar wärmende Strahlen durch die grauen Herbstwolken. Auf einer Bank vor dem Klosterfriedhof bemerkt Weiermann eine betagte Gestalt. Die Haare schlohweiß, der Rücken gekrümmt, die rheumageplagten Hände auf einen Stock gestützt. Müde wendet sie den Kopf zum Ankommenden hin. „Ich weiß schon, sie sind der Kommissar Weiermann.“ Weiermann grüßt freundlich. „Woher wissen sie?“ „Die Anna Maybaum hat mir von den Geschehnissen erzählt. Sie ist mit ihrer Enkelin drüben in der Klosterkirche.“  „Darf ich fragen, wer sie sind?“ Dabei schiebt Weiermann sein gewaltiges Doppelkinn noch etwas weiter über den Hemdkragen.  „Ich bin Pater Joseph, ich lebe schon seit 60 Jahren hier. Nun genieße ich meinen Lebensabend und hoffe, dass der Herr mir noch ein paar Jährchen gönnt.“ Weiermann ist etwas ungeduldig und möchte seine Namensliste zu Ende bringen. „Pater, was sagt ihnen der Name Pater Hubertus?“ „Eigentlich nur Gutes. Wir waren Freunde damals.“ „Damals?“, schaut Weiermann den Pater fragend an. „Wir waren jung. Der Hubertus sah verdammt gut aus.  Dann kam dieses Russenmädchen vom Gut Helpenstein des Sonntags zur Messe in die Klosterkirche. Sie gab nicht eher Ruhe, bis der Hubertus schwach wurde. Wir sind eben auch nur Menschen. Das Ende war, mein Freund, der Hubertus, musste das Kloster verlassen. Fortan lebte er in einem Einödkloster in der Eifel. Einige Male habe ich ihn dort besucht. Er starb dann plötzlich an Herzversagen, der Arme. Möge er in Frieden ruhen.“ „Könnte er etwas mit dem Tode jener Irina zu tun haben?“ Nein! Auf keinen Fall! Der Hubertus hätte sogar der sprichwörtlichen Fliege kein Leid zufügen können“, versucht Joseph den Kommissar zu überzeugen. „Irgendwie komme ich nicht so recht weiter“, murmelt Weiermann. Die Männer des ganzen Dorfes samt Umgebung waren anscheinend mit dieser Frau befreundet. Eifersüchteleien und dann noch diese Schwangerschaft, das ergäbe schon Gründe genug, Gewalt anzuwenden.“  

 

Anna kommt aus der Kirche und tritt interessiert hinzu. „Hallo“, begrüßt sie den Kommissar, kommen sie weiter mit ihren Ermittlungen?“ „Leider noch nicht so sehr. Doch sagen sie Pater, wer oder was könnte sich hinter dem Kürzel A. Gr. verstecken?“ Pater Joseph legt seiner Stirn noch ein paar Falten hinzu und schaut weit in die Vergangenheit zurück. „Doch! Das war dieser arme Kerl, Alfred Grünbach hieß er. Zumindest gab er sich dafür aus. Ob es sein richtiger Name war - keiner wusste es genau? 1949 erschien er plötzlich hier am Kloster und bat darum, gegen Kost und einer Schlafstelle alle Arbeiten verrichten zu wollen, die anfallen sollten.  Seine ganze Familie soll er im Kriege verloren haben. Er sah sehr verhärmt aus. Da er ein nettes Wesen hatte und auch gebildet wirkte, nahmen wir ihn auf. Fortan hielt er die Klostergärten in Ordnung und machte auch die Reparaturen im Haus - so gut es ihm möglich war. Ein lieber Kerl, der Alfred…, wenn er nur nicht so verschlossen gewesen wäre. Irgendetwas muss ihn sehr bedrückt haben. Jeden Morgen, in aller Früh', konnten wir ihn beim Beten an der Mariengrotte sehen.“ „Was wissen sie sonst noch über ihn?“, forscht Weiermann. Der Pater weiter: „Dann kam dieser unselige Herbstmorgen, 1953 war es, als wir den Alfred dort drüben von einem Kastanienbaum schneiden mussten.“ Anna schaut erschrocken hoch, war sie doch nun wieder voll in das Geschehen eingebunden. „Drüben“, deutet Hubertus mit dem Stock zu dem kleinen Kriegsfriedhof, „dort wurde er begraben. Anonym! Nur ein gepflanzter Baum erinnert noch an das Grab.“ „Wo hatte er denn sein Zimmer im Kloster?“ „Auf dem Dachboden, Herr Kommissar. Es war auch eher ein Holzverschlag, der dann später wieder abgebaut wurde.“ „Kann ich da mal hoch?“ „Natürlich, Herr Kommissar, wenn sie dabei auf meine Person verzichten möchten“, und deutet auf seine Beine. „Ganz hinten, wo die alten Schränke stehen, dort sind sie dann richtig.“   „Darf ich mit hoch, Herr Kommissar, irgendwie fühle ich mich diesem Menschen verbunden.” “Paula, leiste dem Pater Franziskus solange Gesellschaft.“ „Ich gebe schon Acht auf die Kleine, nur zu“, sagt Pater Hubertus. Oben angekommen japst die Lunge des Kommissars wie ein Herbststurm im Stimmbruch. Viel zu sehen gibt es hier droben allerdings nicht. Die Schränke sind fast leer. Ein paar verstaubte Fotos in einer Holzschachtel. Anna glaubt darauf jenen traurigen Menschen zu erkennen, den sie damals in der Kastanienallee gesehen hatte. Auf den Fotos jedoch lacht er. Im Arm eine junge Frau haltend, drumherum eine fröhlich dreinschauende Gruppe. Seine Familie wohl. Auch ein Foto einer hübschen jungen Frau, auf der Schlossbrücke aufgenommen, ist zu sehen. „Das muss diese Irina sein“, ist sich Anna sicher. In ihrer Erinnerung ist der fröhlich lachende junge Mann auf den Fotos jedoch nur alt und verhärmt. Welch ein Wandel. Weiermann pustet den Staub von einem Buch, das dort grau und unscheinbar in einem Schrankregal liegt. Eine Bibel! Er lässt die Seiten durch die Finger blättern, und entdeckt eine vergilbte Seite Briefpapier. Das Geschriebene ist aber noch gut lesbar:  

 

 

„Mein Leben ist öde geworden, nutzlos wie die welken Blätter an den Bäumen. Alles habe ich verloren, was für mich Glück bedeutete. Meine ganze Familie, meine Verlobte Katharina, damals in Schlesien, auf der Flucht. Dabei hätte ich so gerne eine Familie gegründet. Meine ganze Hoffnung setzte ich dann auf die Irina. Sie hatte so große Ähnlichkeit mit meiner Verlobten… doch leider nicht ihr liebes Wesen. Mit zu Vielen musste ich ihre Liebe teilen. Im Herbst vor vier Jahren eröffnete sie mir bei einem Spaziergang auf der Kastanienallee, dass sie schwanger sei. Der Vater wäre ich. Sie sagte noch, dass sie mich sehr mag, doch heiraten würde sie mich nicht. Sie wolle nicht arm bleiben, und deshalb würde sie als Vater den Friederich vom Gut Helpenstein angeben. Es gab einen heftigen Streit, ich bat und flehte. Dann lag sie leblos vor mir.  Beim Losreißen aus meiner Umklammerung war sie heftig mit dem Kopf gegen einen Kastanienstamm geprallt, benommen zu Boden gestürzt und auf einen großen Feldstein aufgeschlagen. Sie war sofort tot. Damit starb meine Hoffnung, starb mein Kind und damit starb mein Inneres. Die letzten Jahre waren nur noch Pein. Ich fühle Schuld, auch wenn ich keine habe. Meinem Leben werde ich nun ein Ende setzen, ich möchte nur noch Frieden.“  

 

 Samstag, den 3. Oktober 1953, Alfred Grünbach                 

 

 

 

“Tja, das klingt schon glaubwürdig“, meint Weiermann zur Anna gewandt. „Mord schließe ich dann mal aus. Einen Mörder gibt es nicht, dafür war das Opfer aber männermordend. Lassen wir Kastanien über die Sache wachsen.“  Das mächtige Doppelkinn wabert bei seinem Lachen nun auf und ab.  

 

Es ist ein schöner Herbsttag, die Luft ist lau und blau, eine friedvolle Stille liegt über dem Land. Anna nimmt die kleine Paula an die Hand; beide wandern ein Stück an der Kastanienallee entlang. „Omi, die Kastanien singen heute gar nicht. “ „Nein“, antwortet Anna, „die Kastanien werden nicht mehr singen... komm' fahren wir heimwärts.” 

 

Ende