Mein Berg-Lesebuch

 

 

Die Dolomiten  -  Liebes(v)erklärung an einer Vielgeliebten...

 

Die "Bleichen Berge" werden sie genannt, jene Gipfel hoch im Norden Italiens. Bleich ist allerdings nur deren Gestein. Die Gipfel selber erheben sich mit filigraner Leichtigkeit in den tintenblauen Himmel. Andere Wettergebilde sind mir zwar  zur Genüge bekannt, doch dann hat diese Landschaft noch immer etwas Verwunschenes und Geheimnisvolles an sich. Ich wurde erst recht spät auf diese Berge aufmerksam; doch dann besuchte ich sie fast drei Jahrzehnte lang. Einige von meinen Erlebnissen schreibe ich hier auf. Kleine, unspektakuläre Geschichten, die nicht den Anspruch des Heroischen erheben. Meine Kamera war immer dabei; ohne diese wäre ich "nur" ein halber Mensch. Zunächst war es die Super8-Kamera, später dann die fürs Dia - ehe dann das digitale Zeitalter einsetzte. Dieses "Buch" ist kein Wanderführer oder Ratgeber; weder ist es eine Anleitung für Klettersteige noch dient es zur Auflistung von Schutzhütten oder gar Gehzeiten dorthin. Dieses Buch ist rein der Verbindung Mensch und Natur gewidmet - nicht mehr und nicht weniger. Einfach nur ein Lesebuch! 

Die Drei Zinnen gehören wohl zu den bekanntesten, beliebtesten, markantesten und deshalb meist besuchtesten Bergen der Welt. Allmorgendlich saugen sie Motorisierte auf breiter Mautstraße hoch, falls schlechtes Wetter nicht gerade gnädiges Einsehen zeigt. Parkplätze auf mehreren Ebenen ordnen “Bergruhe“ an. An deren Ende lädt ein Motel zu Speis‘ und Trank. An der Frontseite prangt noch der Name “Auronzohütte“. Längst Nostalgie! Zur Zinnen Schauseite hin, ebenen Wegs und recht breit, ist die Hütte gleichen Namens bald erreicht. Rucksäcke sind in den Gasträumen nicht erwünscht, nehmen sie doch die Plätze weg für die, die da kommen. Und es kommen viele, vielleicht mehr, als die berühmten “Drei“ an einem Tage an Steinen polternd abwerfen. Die Umgebung zwar karg, doch ergreifend schön, falls Wolken - wie so oft - nicht alles verhüllen. Nun kreist die Maß, die Schönheit wird gefeiert. Ein Biergarten ist die Hütte eh!

Der Rosengarten! Welch' Gebirge kann sich schon mit solchem Namen schmücken? Hoch über Bozen gelegen und seltsam lockend. Und Viele erliegen der Verlockung. Dank mannigfaltiger Aufstiegsmöglichkeiten und dank lückenlosem Hüttenangebot lassen sich im “König Laurin-Reich“ die Feste feiern. Und wer dann ein frisches Bier in der Hand vor der Vaiolet-Hütte sitzend zum Gartl hoch schaut, braucht nicht zu befürchten schon doppelt zu sehen, die Menschen sind echt, der Lärm beweist es. Was kann der Rosengarten denn dafür, dass er so schön...

Die Seiseralm, die größte weit und breit, Wander- und Blumenparadies zugleich. Almen sind schön und Almen vermitteln Idylle, doch auf der Seiseralm ist alles zugleich schön. Und geboten wird viel: Hat man erst mal einen Parkplatz ergattert, (Seilbahn kam später hinzu) kann man wählen zwischen Pizzeria und Pommesbude, Restaurants für den gepflegten Gast sowie viele Hotels für die Nacht - oder auch manches mehr. Andenkenkitsch für die häusliche Kommode und warme Strickpullover sind obligatorisch. An Ständen herrscht wenig Mangel. Und wenn das Täschl nichts mehr hergibt - gleich nebenan ist die Bank für Bares. Eben eine Alm für glückliche Kühe und glückliche Wanderer,  in lila, rot und kariert gestylt. Gewandert wird ganz Schuhe schonend und auch immer öfters  auf asphaltierten Wegen; falls man nicht vom Wagen eines Hotelgastes verdrängt wird. An einer der vielen Jausenstationen darf man sich laben: Kuhmilch frisch, Speck vom Tiroler oder Grappa vom Feinsten. Wenn man dann nach Südosten schaut, dort wo sich der Langkofel aus  wellenförmigen Hügeln empor hebt, stolz, unnahbar und ergreifend schön, dann ist man mit sich und der Welt schon im Reinen.

In vielen Hütten die dort in den “Bleichen Bergen“ stehen, habe ich übernachtet. Als Einzelgast war ich dort gut aufgehoben und wurde wohl bewirtet. Doch zumeist war ich einer von Vielen. Oft bei bedrängender Enge, dann war ich nie sehr glücklich. Und oft habe ich in jenen blechernen Biwakschachteln übernachtet, hoch am Berg, beengt und ohne Komfort; bei Sturm Schneetreiben und Gewitter, immer alleine – dort war ich glücklich. Auf allen Pässen habe  ich übernachtet, befreit vom Tagesrummel, fern vom Lärm der Autoschlangen - ich habe mich wohl gefühlt. Die Dolomiten sind beliebt,  sehr beliebt! Vor lauter Liebe werden sie fast erdrückt. Und irgendwann werden sie an dieser Liebe wohl sterben. Todesursache: Zu Tode geliebt. Schlichtheit ist kein Merkmal dieser Berge, so wenig schlicht wie deren Namen. Wo anders wetteifern die Vokale schon so klangvoll als in denen, die dort heißen: Marmolada und Marmarole; Pala, Pelmo, Lagorai und Tofane; Antelao, Cristallo, Cadini oder Sorapis. Diese Klangvollen Gipfel waren es schließlich nicht zuletzt, die mich in die Dolomiten hineinlockten, um deren Geheimnisse zu erkunden.

Während eines Familienlurlaubs im Jahre 1980 lernte ich die Dolomiten lieben. Nicht ahnend, dass Leidenschaft daraus entstehen würde. In den folgenden Jahren machte ich mich auf, diese Welt aus Stein und Blumenlust ganz auf meiner Art zu erobern: Alleine! Einsamkeit im Sinne von Verlassenheit habe ich dabei nie verspürt. Eroberungsdrang ist mir fremd geblieben, ich wollte erobert werden. Und ich wurde erobert! Diese Welt verzaubert, indem sie Harmonie schafft. Der schwere, drückende Rucksack entlockte bei mir so manchen Fluch, wenn die Hitze vom hellen Fels mal wieder recht arg abprallte, wenn die Füße nicht mehr wollten oder meine Schritte im Geröll keinen Halt mehr fanden. Doch alle Plagen waren spätestens dann ausgeflucht, wenn ich eine sonnendurchflutete Scharte erreichte und sich vor mir eine Landschaft ausbreitete, bei deren Beschreibung die Lippen stumm bleiben - weil Worte nicht ausreichen sie in Bildern fassbar machen. Waren es zunächst die bekannten Höhenwege, die mehr oder weniger von Nord nach Süd diesen gewaltigen Bergraum durchmessen, wollte ich schon bald die viel besungenen, viel gerühmten Klettersteige mit einbeziehen. Wenn dann klamme Finger das kalte Stahlseil klammerten, der Blick genau die Waagerechte auslotend und das Denkbare möglichst nicht denken, dann war die Luft schon recht dünn unter dem Hosenboden. Doch irgendwann wurde der Gang lockerer. Es ging voran! Bekannte Gipfel zu besteigen ist ein Muss, doch immer mehr wurde mir bewusst, dass mich das Unbekannte, das Abenteuerliche reizte. Ob es nun die Erlebnisse auf hohen Gipfeln in den nördlichen Dolomiten waren oder die auf kaum fußbreiten Pfaden in den wilden, schluchtartigen Tälern des Südens. Den Wechselbädern erregter Anspannung folgten Stunden der Muße. Freude über versteckte Blumenoasen, abseits aller Wege, so schillernd bunt wie die Schmetterlinge, die lautlos durch das Licht gondeln, Hummeln die sich von Blüte zu Blüte brummeln, Murmeltiere die sich in den höchsten Tönen üben, erregt schnaufende Gämsen, aufgeschreckt vom unachtsam hinab gestoßenen Stein und kreisende Dohlen  unterm Tintenhimmel, dem Flugzeuge weiße Girlanden zeichnen. Zuviel der kitschigen Harmonie? Für wenig sensible Menschen möglicherweise, für mich so wichtig wie die tägliche Nahrung. Es sind dies die kleine Fluchten aus dem  Einerlei  des Alltags, und es sind die großen Schritte  zur erlebten Sinnlichkeit.

 

 

   Die Stille…

 

Um mich herum tief atmende Ruhe. Ich erhebe mich von meinem Nachtlager. Greife suchend nach Hose und Jacke. Vorsichtig tastend steige ich über Rucksäcke, die da und dort den Raum zwischen den Nachtlagern füllen. Noch ist es Nacht - fast. Ein erster zarter Schein bildet einen blassen Lichthof auf die atemfeuchten Fenster des Rifugio Lagazuoi. Draußen vor der Eingangstür - frostige Kühle. Ich ziehe den Kragen meiner Jacke hoch. Ostwärts gehend entferne ich mich ein gutes Stück von der Hütte weg, Richtung Tofane. Um mich herum Stille… nichts weiter als Stille! Transparenz erfüllt den Raum. Das kaum merkbare Geräusch meines Atems erlebe ich fast als störend. Ganz langsam vergeht die Nacht, die Morgendämmerung setzt ein, so sanft, dass mir die Grenze zum Tag kaum bewusst wird. Schemenhaft, dunkel, mächtig und auch geheimnisvoll zeichnen sich die Konturen der Tofana di Rozes gegen den östlichen, noch fast unmerklich erhellten nachtdunklen Himmel ab. Aus der Leere der Nacht, von Westen kommend, ein dunkles Etwas, streift mich fast, und gleitet lautlos vorüber. Ein einziger Flügelschlag bricht die Stille... ganz wenig nur. Für einen winzigen Augenblick wallt die morgenkühle Luft auf, kaum messbar. Eine Bergdohle nur, doch sie erscheint mir wie ein Wesen aus Urzeiten - fremd und bedrohlich. Sie entschwebt in die steinernen Kulisse. Erst allmählich, dann jedoch rasch dominant, verwandelt sich die Nachtschwärze zu einem tiefdunklen Glutrot.  Es ist so, als wäre ein himmlischer Schmidt zu Werke, der nun Sauerstoff in die scheinbar kalte Glut pustet. Bald wird daraus ein sanftes Rosa. Die Tofana umgibt sich mit einer Aura, die betörend wirkt und zugleich nach Demut verlangt. Tief unten zieht ein erstes Gefährt in määnderförmiger Bewegung zum Passo Falzarego hoch; lautlos noch, die Entfernung ist zu groß. Und noch immer nimmt mich der sonderbare Zauber dieses Bergmorgens gefangen, den ich hier auf der Gipfelfläche des Lagazuoi erleben darf, hoch über Cortina d'Ampezzo. Für Augenblicke schließe ich die Augen, als die Sonne jäh hinter der Tofana hervorbricht und den Tag endgültig ausleuchtet. Unweit, erste Laute in der Stille: Geschirr scheppert und blecherner Klang von Töpfen und Pfannen. Wortfetzen dringen zu mir herüber - italienisch, deutsch und wienerisch. Das Inventar der Lagazuoi-Hütte regt sich, die Gästeschar erwacht, der Tag nimmt seinen Lauf. In ein paar Stunden wird die Seilbahn wieder Unruhe hochsaugen - sieben, acht Stunden lang; bis dann wieder Stille einkehrt. Ich packe meine Sachen, stecke ein paar Happen des kargen Hüttenfrühstücks in die Backen, ein Schluck Tee noch, dann bin ich wieder bereit den Steinen zu folgen, die mich südwärts führen, tiefer und tiefer hinein in die Welt der Bleichen Berge.

 



2. Frühling, Sommer, Winter – und 30.000 Lire

 

Wenn die Sonne im Jahreslauf beinahe ihren Scheitelpunkt erreich hat und schon recht senkrecht steht, und wenn die Sonne auf den Almen und in den Bergschründen an den Resten des Winters leckt, dann befällt dem Bergwanderer eine gewisse Unruhe, die ihm nach Rucksack und Bergschuh schielen lässt. Umso sehnlicher das Bedürfnis dann, wenn er am fernen Niederrhein wohnt.

Der Juni hat so gerade den Monat geteilt, als ich Richtung Dolomiten steuere. Die Berghütten dürften nun nach und nach ihre Türen und Fensterläden öffnen. Darauf hoffend, hatte ich meine Touren geplant. Auf jeden Fall waren sehr viele Wanderungen in der sprießenden Bergnatur gewollt; aber auch Weitwanderungen mit eingeschobenen Hochtouren. Einmal ganz bewusst den Bergfrühling erleben und dem Massentourismus keine Chance geben, der unweigerlich und unabänderlich im Juli einsetzen würde. Darauf meine ganze Hoffnung setzend, erreiche ich an einem halbwegs sonnigen Sonntagnachmittag das Grödnertal. Doch aus dem Frühling wurde ein Frierling…

Tau liegt auf den Gräsern, als mich ein strahlender Montagmorgen begrüßt. Doch diesmal liegt der Tau in fester Form und im weißen, verschwenderischen Glanze über die noch jungen Gräser. Alles brilliert und leuchtet. Saukalt aber herzerwärmend, lässt es sich  auch umschreiben. 
Das Grödnertal mit seinen Bergen ringsum war mir zwar über die Jahre recht bekannt, doch immer noch gibt es Ecken und Winkel, die ich nie gesehen. So auch die Steviahütte und deren Umgebung. Über den schattigen, teils vereisten Aufstieg, werden die Beinmuskeln nach und nach erwärmt. Ein Almbauer, der mit mir ein Stück Wegs gemeinsam geht, schimpft mir die Ohren über das Sauwetter voll. Dabei habe ich überhaupt keine Sorgen, ich empfinde das Wetter als Genuss. Mit stetem Anstieg hebt sich auch der Langkofel höher, der nun nach und nach über der Seiseralm dominant seine Felsgestalt so recht ins Morgenlicht rückt. Ein Bild voll seltener Anmut und Schönheit. Schon freue ich mich auf ein schönes Getränk in der Steviahütte. Doch... nichts da - außer Kaninchen. Diese tummelten sich in der nun wärmenden Sonne vor der Hütte. Die Hütte selber hält ihre Öffnungen noch dicht verschlossen. Dafür hat dann die Regensburger Hütte die Saison bereits eröffnet, wo ich mich dann später für eine gute Weile niederlasse.

Nächsten Tages starte ich vom Grödner Joch ausgehend zur Puezhochfläche. Es liegt noch eine Menge Schnee auf dem zerfurchten Plateau. Der Weg zur Puezhütte zieht sich hin. Jeder Eile fern dauert es, bis ich mich vor der kleinen, alten Puezhütte auf der Holzbank niederlassen kann. Das Gesicht zur Sonne gedreht, träume ich von vergangenen Zeiten. Damals, auf dem Dolomitenhöhenweg 2, war hier ein lebhaftes Völkchen in gelöster Stimmung in der vollgepfropften Mini-Hütte versammelt. Voller Enthusiasmus und Tatendrang befand ich mich auf meiner ersten Weitwanderung. 
Doch während ich noch die herrliche Stille  verinnerliche, ist plötzlich ein Dröhnen in der Luft. Ein Hubschrauber setzt in aller Eile unweit von mir direkt vor der neuen Puezhütte auf. Heraus springen eine Menge Leute, die augenblicklich in der Hütte verschwinden. Sofort werden die Fensterläden aufgestoßen. Doch schon erscheint der „Hublärmer“ erneut und bringt in einem großen Netz Konserven und Getränkekästen. Recht grimmig über die geraubte Stille steige ich etwas weiter bergan, zum Col Muntejela. Für die weiteren Stunden genieße ich den beruhigenden Blick über die weiten Almwellen, die erst vor dem Peitlerkofel im Norden haltmachen.
Erstaunt bin ich doch, als ich auf dem Rückweg wieder am unschönen Hüttenneubau vorbeikomme. Alle Bänke vor dem Haus sind nun besetzt. Wanderer trinken, essen und schwatzen. So, als könnte man die Öffnung riechen, kommen die Leute nun in nicht minderer Zahl aus dem Langental empor. Die Saison ist  dann wohl endgültig eröffnet. 
Die Beinmuskeln nun etwas gestärkt, starte ich zu meinem vorgesehenen Hauptziel, die Sextener Dolomiten. Am Misurinasee biege ich ab auf die „Zinnenautobahn“. Eine Schranke gebietet mir augenblicklich Halt. Diese öffnet sich erst, als ich einem uniformierten „Wegelagerer“ 30.000 Lire in die fordernd aufgehaltene Amtshand drücke. (Es war kurz vor Einführung des Euro). Die Auronzohütte befindet sich noch im geschlossenen Zustand, als ich diese am späten Nachmittag erreiche. Über den großen Parkplätzen liegt noch eine gespenstige Ruhe. Auf der obersten Parkebene, direkt unter den Zinnen und mit hervorragendem Panoramablick auf die Cadini, richte ich mich in meinem Wagen für die Nacht ein. 
Für die nächsten Tage habe ich mir folgenden Plan vorgelegt: Morgen soll es zunächst auf die Schusterplatte gehen. Für den Wochenrest  würde ich dann den Rucksack für eine größere Tour packen. Über die Klettersteige des Paternkofels hochsteigend, wollte ich diesen dann queren. Weiter sollte es zur Zsigmondyhütte gehen, um dort zu übernachten. Über die Carduccihütte wollte ich dann zur Zwölferkofelumrundung starten. Eine Nacht im Bivacco Toni ist eingeplant. Dann wieder zurück zum Ausgangspunkt. 
Doch zunächst starte ich jetzt am Donnerstagmorgen bei freundlichem Sonnenschein, jedoch recht kühler Witterung Richtung Schusterplatte. Ganz vereinzelt sind Wanderer unterwegs. Über den "Dreizinnenboulevard"  steige ich den Paternsattel an. Von hier ist es  schon ein traumhaft schönes Bild, das sich  dort auf die nördlichen Sextener bietet. Und inmitten aller Pracht steht die Dreizinnenhütte, deren rotes Dach schon von weither anheimelnd lockt. Nun, auch diese ist noch geschlossen. Was aber gar nicht weiter schlimm ist. Wer die Hütte im geöffneten Zustand kennt, weiß, was er nicht verpasst hat. Die Schusterplatte ist ein Beinahe-Dreitausender. Wenn auch gar nicht schwierig besteigbar. Der Blick vom Gipfel schweift über das wilde, zerklüftete Felsdrama der nördlichen Sextener. Dunkle Wolken sind aufgezogen, ein eisiger Wind heult über die Gipfelebene. Gewölbte Schneereste ergeben zusammen mit dem rötlichen Fels ein faszinierendes Maler-Stillleben. Eine knappe Stunde bin ich oben - zum Schauen, zum Fotografieren. Den Winterraum der Zinnenhütte erreiche ich dann aber schon im platschnassen Zustand, weil ein Gewitter schneller war. Als ich später mein Auto wieder erreiche, bricht die Abendsonne durch. Das Zackengewirr der Cadinigruppe wird  zum abendlichen Hauptfilm, der sich in diesem wundervollen
  Autokino durchaus empfiehlt.

Freitag ist es. Mein Rucksack für drei Tage gepackt wartet aufs Aufschultern. Das Wetter ist durchaus sonnig, wenn mich nur nicht dort im äußersten Westen  der kleine, dunkle Wolkensaum stören würde. Also warte ich noch ab, was sich ergibt. Vermehrt ziehen Wolken auf, und vermehrt ziehen nun Wanderer an meiner Parkbucht vorüber. Das anbrechende Wochenende lässt so manchen Berggast hier erscheinen. Ich liege richtig mit meiner Vermutung, dass ich sie in Kürze wieder sehen werde. Und siehe da, um 11.00 Uhr hasten sie alle wieder durchnässt zu ihren Wagen zurück. Der frühmorgens gesichtete Wolkensaum hat sich mittlerweile nämlich zu einem ausgemachten Sauwetter entwickelt. Für mich heißt das – warten. Zum Tal runter und morgen wieder 30.000 Lire abdrücken – nicht mit mir! So eine Mautstraße wird ja nicht gebaut, um die Dolomiten mit dem zu entrichtenden Obolus zu retten, sondern um die Gesellschafter zu erfreuen. Um die nun genügende Zeit auszufüllen, betreibe ich Anschauungsunterricht. Trotz Regenwetter zieht es ein Wagen nach dem anderen die Maustraße hoch. Alles aussteigen, Weib und Kind vor die Zinnen befohlen, ausrichten und in die Kamera grinsen lassen. Klappe zu, Wagen weg. Somit kostet jeder Schnappschuss hochgerechnet 30.000 Lire. Ein kalter, windiger Abend gibt mir zumindest die Hoffnung, dass ich morgen aufbrechen darf. Heute ist Sommeranfang! 

Samstagmorgen! Der Wächter über Parkbuchten und Mautgebühren erscheint wieder zur Überprüfung der rechten Ordnung, um wie gestern früh auch schon, die Mautkarte auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Der Gebüreneintreiber dient ebenso wenig zur Erhellung meiner Stimmung, wie das Wetter; auch wenn nun zwei blassblaue Wolkeninselchen auszumachen sind. Diese sind nach dem ganznächtigen Regen immerhin ein Lichtblick. Und was kommen muss, das kommt! Regen setzt wieder in gewohnter Form ein. Meine Stimmung sinkt auf den absoluten Tiefpunkt. Nun bin ich bereits den vierten Tag hier droben und harre mit einer geradezu engelhaften Geduld. Doch nun werde ich trotzig. Im Tal kann ich nichts anfangen, hier oben auch nicht. Die 30.000 Lire werde ich deshalb bis auf die letzte Lira auskosten. Heute werde ich noch bleiben, morgen entscheide ich dann weiter. Es ist erstaunlich, wie viel man schlafen kann. Kaum habe ich ein paar Seiten gelesen, bin ich schon wieder müde. Die Wärme des Schlafsacks bietet fast komfortable Gemütlichkeit. Zwischendurch wird aus dem großen Aldi-Sortiment eine Konserve herausgegriffen. Zum Nachtisch eine Tafel Schokolade. Das Ritual wiederholt sich in dieser oder ähnlicher Form - und auch immer öfters. Die weiteste Wanderung ist die zur Mülltonne - 10 Meter! Wagen kommen hoch, Wagen fahren runter. Der Tag leiert dahin, die Abenddämmerung sinkt hernieder. Schneefall hat seit geraumer Zeit die Umgebung in weißgrauer Einheitsfarbe getunkt. Ein heftiger Wind verwirbelt die Flocken. Um die Drei Zinnen toben die Elemente. Aus dem Autoradio grüßt Elvis Presley mit der amerikanischen Version von „O sole mio“. Längst bin ich schon wieder tief in meinem Schlafsack verschwunden - zwei Wolldecken obenauf. Warm ist mir nicht, frieren tue ich so direkt aber auch nicht. Es ist so eine eigenartige Restbehaglichkeit vorhanden, die mir verbietet, den Schlafsack überhaupt jemals wieder zu verlassen. Längst ist die Dunkelheit herein gebrochen, obwohl ich diese nur ahnen kann. Die Scheiben des Wagens haben sich  derweil mit einer dicken Schnee-Eisschicht überzogen. Der starke Wind entwickelt sich zum Sturm. Böen schütteln am Gefährt, und  erlebe dabei das Gefühl, einem stürmischen Transatlantikflug ausgesetzt zu sein. Viel Schlafen werde ich in dieser Nacht recht wenig. Gefühlte 300 Mal wechsle ich die Lage im Schlafsack. Hin und wieder dämmere ich weg. Eine leichte Erhellung am Autofenster lässt den beginnenden Morgen erahnen. Der Sturm ist etwas sanfter geworden. Doch nun muss ich, ob ich will oder nicht, an die Luft. Nur wie? Die Wagentüren lassen sich nicht öffnen, ebenso wenig die Scheiben. Alles ist eingefroren. Mit dem einsetzenden Licht kommt mir dann die erhellende Idee, den Wagen zu starten und die Heizung auf volle Pulle zu stellen. Die Batterie hat noch Saft, der Motor startet. Nur das Gebläse kommt nicht in Gang. Die Einlassöffnungen müssen verstopft sein. Nach einer guten Viertelstunde und mit ein wenig Gewalt lässt sich die Tür widerwillig aufdrücken. Der Schnee hat die Höhe des Türholms erreicht, die Konturen des Wagens sind fast verschwunden. Ein Wintermärchen? Wohl kaum! Ist doch jetzt bereits der  fünfte Tag angebrochen, an dem ich hier verharren muss. Und jetzt will ich endlich runter - weg von  diesen „verfluchten“ Sextener Dolomiten. Doch wie? Die Mautstraße ist dick eingeschneit. Nun, sage ich mir, Mautstraße = Geldstraße – und ohne Moos nichts los. Also würde in Kürze ein Schneepflug erscheinen, der den Tagesgästen die Bahn spuren wird und mir eine schöne Abfahrt. Gegen 9.00 Uhr tauchen dann tatsächlich die Lichter der Räummaschine auf. Der Weg ins Tal ist frei. Die Bauern treiben ihre Kühe von den Sommerwiesen abwärts, die Tiere haben nichts zu fressen im Schnee. Auf den Bäumen liegt weihnachtliches Gepuder. Am Misurinasee ist der Spuk dann endgültig vorbei. Verwundert schaut man auf die dicke Schneeschicht, die auf dem Dach meines Wagens lastet. 
Nach weiteren zwei Tagen und weiteren frustrierenden Beinahe-Touren lenke ich meinen Wagen auf die Autobahn. Soweit ein Sommeranfang in den Dolomiten!

 

 

 

 

3. Almgeschichten

 

Der Monat mit dem O ist mir der liebste geworden. Er spendet noch die Wärme, von der sich die Haut geschmeichelt fühlt, und er spendet Farbe, von der sich die Seele geschmeichelt fühlt. Wenn er denn Regen bringt, macht er nun öfters Schnee daraus, der sich in den Höhen schon gerne anhaftet. Morgens tanzen Eiskristalle zu flimmernden Lichtern illuminiert auf den gelben Gräsern, auf Herbstzeitlose und auf Lärchenzweigen. Und wenn die Frühnebel von der wärmenden Oktobersonne überlistet sich so nach und nach von weißblauer Wischtechnik in ein tiefes Blau verflüchtet haben, tut sich endlich die Welt auf, die Maler nach dem Pinsel greifen lässt - andere nach Nikon oder Canon. Ich fühle mich der fotografierenden Sorte verhaftet und kann mich so wieder dem ganzen „Kitsch“ hingeben, der verschwenderisch und im vollen Breitwandformat die Dolomitennatur durchflutet. An wintertrüben deutschen Abenden dürfen sich Zuschauer im trübgrauen Einheitslook gewandet die Ergebnisse als bunte Bilder anschauen. 
Der Dolomiten-Oktober hüllt ein, schafft Szenerien die traumhaft wirken, Träume wecken, Träume erfüllen. Farbe quillt aus den Wiesen, aus den Büschen, Farbe rieselt aus den Bäumen; Felsen zieren sich in Ockergelb und Rostrot, oder auch in Weiß und  helles Grau. Darüber ein Himmel aus Azur pur. Nie zu bunt, alles passt, alles harmonisiert, alles voller praller Farbe. Vincent van Gogh war niemals hier. Hätte er die Dolomiten nur gekannt...

Als ich nun im Oktober 2002 an einem Spätnachmittag Predazzo erreiche, wird es im Fleimstal schon dunkel. Ich biege auf die Forststraße ab, die ins Val di Maggiore führt, um dann gut 600 Meter höher zur gleichnamigen Alm zu gelangen. Zwischen mächtigem, alten Gehölz bricht die Abendsonne blendende Schneisen, und der hochgewirbelte Staub leuchtet goldfarben auf. Auf 1600 Metern erreiche ich den großen, ebenen Almboden, an dessen Ende sichte ich die Malga. Diese hat die Sommerbewirtschaftung bereits eingestellt. Aber es befinden sich noch kleine Gruppen Nutztier’ auf den Wiesen. Die dunklen Berge der umgebenden Lagoraikette wirken nun ernst. Nur gegen Nordwesten zeichnet sich der helle Fels der Latemargruppe ab. Ich bin etwas müde von der langen Tagesfahrt und möchte nach einem leichten Abendbrot den Schlafsack aufsuchen. Dieser wird für die kommende Nacht in meinem Wagen ausgebreitet. Schon bald schleicht sich eine Gruppe Esel heran. Neugierig und aufdringlich beobachten sie, was diese komische Gestalt wohl treibt und vor allen Dingen da futtert. Und da sie nicht zu vertreiben sind, schlage ich die Heckklappe zu und ziehe mir den Schlafsack um die Ohren. Nacht legt sich über die Lagoraiberge, Insel der Stille.
Hin und wieder besuche ich sie gerne, weil es in deren Hochlagen noch keine Hütten gibt; ebenso wenig finden sich Liftanlagen. Im Sommer wandert man gerne hier, doch der Zustrom ist endlich. Und jetzt im Oktober kann ich nur mich entdecken.
Ich fröstele etwas in meiner Hülle und schlafe etwas unruhig. Doch dann um 3.30 Uhr in der Früh hebt ein Geläut an. Schnaufend kommt eine Horde Pferde näher, glaube ich zu hören. An den Ritzen des Kofferraumes saugen sich schnüffelnde Nüster fest. Die eingesaugte Luft signalisiert wohl Essbares. Leichte Erdstöße erschüttern mein Anwesen, wenn der mächtige Hintern des rangoberen Pferdes der Gruppe die Karosserie walkt. Ich kann alles nur ahnen, was draußen in der kalten Nachtluft abläuft. So auch, als ein hässliches Schmirgelgeräusch anhebt. Mit Genuss leckt der alte "Sauerbraten" den Raureif vom Lack meines Wagens weg. Schließlich kommt das grausame Geräusch fräsender, breiter Pferdezähne dazu. Ich kann es nur so einordnen, dass der Hengst die Außenspiegel nun vollends ins Maul genommen hat. Vergleichbare Töne machen sich nun auch im Heckbereich bemerkbar. Das Schlimmste befürchtend, brülle ich gegen die Nacht an. Ohne Erfolg! Schließlich schäle ich mich unwillig aus Sack und Decke, verwinde mich zum Fahrersitz, starte den Motor und schalte das Fernlicht hoch. Nun weicht das Pferderudel doch wenige Meter zurück. Doch sehr beeindruckt scheint es nicht zu sein. Auf jeden Fall haben sie nun von meiner Gastfreundschaft genug und wenden sich endlich ihrer gewohnten Kost zu.
Der Lack ist zwar an einigen Stellen recht unschön abgefräst, doch wiederum nicht so stark, wie ich zunächst befürchtete, stelle ich dann bei meinem morgendlichen Rundgang fest.

Vom vielen Schnee in den oberen Regionen des Lagorai war ich dann doch etwas überrascht. Zuviel war in den letzten Septembertagen heruntergegangen. So wurde mein Besuch dort auch kürzer als geplant. Deshalb startete ich nächsten Tages vom Passo Vallez ausgehend zu einer gemütlichen Almwanderung. Jenseits, südlich, recken sich die mächtigen aber doch so filigranen Spitzen der nördlichen Palagruppe in den grauen Himmel. Die zum Naturpark Paneveggio gehörende große Alm- und Hügelflache, die zwischen Pelegrinotal und den Palabergen eingelagert ist, möchte ich nun per Rundwanderung erleben. Die Hütten sind bereits geschlossen; wohl auch deshalb, weil sich für meine Dürftigkeit ohnehin keiner mehr interessiert. Einsam ist es aber doch nicht. Immer wieder sausen Jeeps über die breiten Kieswege. Um den großen See herum - Lago di Cavia - ist es recht laut. Einer der Lifte wird gewartet und aufgerüstet für den Winteransturm. Eine andere Gruppe werkelt an der Staumauer des Sees. Als See macht er sich auch nur auf der Karte gut, denn bei Augenschein ist der Zweck desselben bald erkannt: Die Schneekanonen brauchen Futter. Und als ich mich etwas genauer umschaue, entdecke ich inmitten der Hügel viele pistenartige, breitgewalzte Flächen. Diese sind nun mit einem leichten Flaum aus Schnee bedeckt, der etwas Erbarmen gibt, aber nicht deren Hässlichkeit zu verstecken vermag. Zu verstecken gibt es allerdings sehr viel, wie ich auf meiner halbtägigen Wanderung sehe. Pisten, Stromkabel, Masten, Lifte und breite Wege, alles gilt es für den Winter zu "schmücken". Sollte der Winter dann nicht so recht wollen - wie so oft - hat der Kanonier wieder harte Akkordarbeit zu erledigen. Eine hässlichere Alm als diese, kommt mir momentan nicht in den Sinn. Leise rieselt der Schnee!

Um wieder eine geordnete Behaglichkeit für die folgende Woche zu haben, wende ich mich dem Alta Badia zu. Aus dem düsteren, nun meist sonnenlosen Gadertal biege ich ab nach Wengen. Wenn unten im Tal schon alles im Schattenreich versunken ist, räkelt sich dieser beschauliche Ort noch in der Abendsonne. Hier hat alles noch eine natürliche gewachsene Ordnung: Kirchgang, Friedhof, dann Wirtshaus - in dieser Reihenfolge. Gebaut wird auch - doch (noch) in Grenzen. Zwei, drei oder auch vier Häuser werden es  im folgenden Jahr wieder mehr sein. Doch Lifte wird man vergeblich suchen, und Pisten finden sich auch nicht. Drüben, dort unter der Sella, in Corvara, wird man Sicherheit dererlei nicht entbehren müssen. Und wunderschöne Wanderwege gibt es hier auch. Die Augen erblicken den Peitlerkofel und die Puezberge, an der langen Flucht des Kreuzkofelmasivs entlang haften die Augen schließlich auf den Hausberg des Hochtales, die Neunerspitze. Nicht ganz 3000 Meter hoch, dafür ein Mehr an Schönheit. Steigt man dann auf seiner Wanderung zu den Hügeln von Wengen höher, zur Kreuzspitze vielleicht, schaut man schon bis zum Großglockner - oder auch nur unmittelbar auf die märchenhaften Fanesberge. 
Doch es stinkt im schönen Wengental! Alle Bauern wollen in den ersten Oktobertagen zugleich ihre in reichhaltiger Fülle übers Jahr angesammelten Opfergaben gegen Himmel senden. So beschließe ich umgehend, die opferfreie Schutzzone der Fanesalm aufzusuchen.
Der Wetterbericht meldet für heute durchwachsendes Wetter: wolkig mit etwas Aufheiterungen, - etwas Regen möglich. Unbeeindruckt davon steige ich in den Wagen und fahre die Valparolajoch-Paßstraße hinan. An der Capana Alpina sammeln sich erste Automobile. Zunächst ist es noch kühl, doch dann setzt sich die Oktobersonne durch. Der blaßblaue Himmel färbt sich zu dem Blau, was ehedem gerne Könige zu tragen pflegten. Linkerhand zum Aufstieg, das pralle Gefüge der Conturinesspitze. In deren Ausbrüche fangen sich die Schatten der Morgensonne. Der gelbrote Fels zieht immer wieder magisch das Objektiv meiner Kamera an. Drüben, im Südwesten, räkelt sich die Wucht der Sella aus den Almwellen. Nach dem treppenartigen Anstieg zur ersten Einsattelung wird die Jacke endgültig in den Rucksack geschoben. Vor mir die weite Fläche von Großfanes. Zum wiederholten Male bin ich dort - nie bereut. Mit jedem Schritt wird die Aussicht schöner. Deshalb ist es geradezu ein Muss, diese zu erwandern. Schäfchenwolken sammeln sich am Himmel, Flugzeuge bringen wiegende Seidenschals dazu. Ein kurzer Fluch, wenn ich mal wieder über einen Stein stolpere. Doch die "Hansguckindieluft"-Verrenkung erfordert dies. Ich habe die Aufnahmen noch nicht gezählt, die hier von mir fotografiert wurden, doch es dürften mittlerweile mehrere Hundert sein. Müde, nach Perspektiven zu suchen und müde, die Ergebnisse anzuschauen, liegt mir bislang noch fern. An der Brücke über dem Fanesbach, unweit der kleinen Jausenstation, tut sich nach Osten hin ein Panorama der Extraklasse auf. Frischschnee lagert in den Furchen der Felswände, auf den Almbuckeln strahlen goldgelbene Lärchen im Herbstlicht, und dazwischen rauscht der Fanesbach. Kann „Kitsch“ noch schöner sein? Es ist dies so ein "Edelgemälde", wie er ehemals (und auch heute noch) in den muffigen Wohnstuben der arbeitenden Bevölkerung gerne den Raum schmückt; der Seele etwas Wärme bot und der Sehnsucht Flügel verlieh. Nur - hier ist der "Kitsch" Wirklichkeit. Wer dann vor Ort diese herabstufende Umschreibung tatsächlich in den Mund nimmt, ist ein elender Banause. Basta!
Und so steige ich weiter über Lichtwege und Märchenwiesen, und dann auch hoch zum sagenumwobenen Limosee. Dampfend habe ich ihn allerdings nur einmal gesehen, vor vielen Jahren, auf dem Dolomitenhöhenweg 1, früh am Morgen. Es war August, und da war er noch gut gefüllt. Doch nun ist er ein elender Tümpel; unansehbar, eher jämmerlich. Ein älterer Herr kommt über die Kante hoch geschnauft, die zum touristischen, wenn auch nicht minder schönen Abschnitt der Fanesalm abbricht, nach Klein-Fanes."Grüß Gott! Wo ist denn hier der Limosee und wie komme ich dorthin?" "Na, sie stehen schon direkt davor", antworte ich. "Ach?" Ob er nun sehr enttäuscht ist, versuche ich fragend in dessen Gesicht zu lesen? Oder gibt er sich damit zufrieden, nun abhaken zu dürfen, was der Fremdenführer in Buchform gemeinhin als sehenswert einstuft? Sei es drum, ich beobachte noch ein Weilchen von erhöhter Warte das quirlige Leben auf den beiden Hütten von Klein-Fanes, welches sich aus dieser Entfernung jedoch recht friedlich darbietet. Das Licht der Nachmittagssonne fordert auf, eine Fotoaufnahme an die nächste zu reihen. Dann wieder innehalten - schauen. 30 Wanderer mögen es schon gewesen sein, die ich während dieses schönen Tages begegnete; doch fühlte ich mich nie eingeengt. Inmitten der Wellen der weiten Alm fallen sie kaum ins Gewicht. Fanes wurde meine Lieblingsalm. 
In Deutschland regnet es saumäßig, erfahre ich später per Handy von meiner Frau. Na, das ist aber schade...  

 

 

                                              

 

4. Der König (Antelao) und ich...

 

Fast 20.00 Uhr! Ich muss mir die Augen reiben und die kleine Taschenlampe einschalten, um die Uhrzeit am Arm überhaupt erkennen zu können. Es ist düster, fast lichtlos in meiner winzigen und engen Behausung. So nach und nach wird aus dem zusammenhanglose Gefüge meiner Sinne wieder eine geordnete Einheit. 

Ich befinde mich im Biv. Cosi, einer von jenen kleinen, rotgestrichenen, tonnenförmigen Blechbehausungen. Diese stehen verstreut in den Bergen - meist in größeren Höhen - um dem Bergsteiger einen bescheidenen Schutz vor den Unbilden des Bergwetters zu gewähren. Diese "Iglus" sind aber auch als Unterkunft bei mehrtägigen Bergwanderungen bestens geeignet. In der Regel sind acht bis neun Klappbetten eingefügt; und wenn man Glück hat, sind diese auch mit Schlafdecken ausgestattet. Sollte es aber ausgerechnet einmal 9 Leuten danach lüsten, sich dort wohnlich einzurichten, dann Gute Nacht! Doch das Glück ist bei mir, ich bleibe alleine hier, auf 3111 Meter Höhe, etwa 150 Meter unterhalb des Antelao-Gipfel.

Am Morgen hatte ich mit dem Aufstieg zum Gipfel des "König der Dolomiten" begonnen. Nach der Marmolada ist der Antelao der zweithöchste Berg in den Dolomiten. Mein bester Tag ist  ganz und gar nicht heute: Etwas müde, etwas träge, eher lustlos quäle ich mich bergan. Schwüle liegt in der Luft. Oberhalb des Gipfels schieben sich bereits mächtige Wolkentürme in den blassblauen Himmel. An Umkehr denke ich aber nicht - bin ich doch schon zu hoch. Trotz aller bleiernen Trägheit, die den Füßen jegliche Lust nimmt weiter zu steigen, habe ich es aber auch nicht allzu eilig, den Gipfel zu erreichen. Es ist von mir fest eingeplant, auf dem höchsten Punkt zu übernachten. Es soll das ganz große Erlebnis werden: alleine mit der Welt, plus Sonnenuntergang und -aufgang. Dafür schleppe ich dann nebst Foto- und Filmausrüstung auch noch den Schlafsack mit über die steile, geröllbedeckte Nordflanke des Berges hinan. So wird es dann schließlich auch 14.00 Uhr, ehe ich die kleine Biwakschachtel erreiche. 
Hier will ich nun vorerst bleiben und der Dinge harren, die sich mit mäßigem Grollen ankündigen. Erst noch recht sanft und verhalten, doch dann immer mächtiger dröhnt es mit gewaltigen Paukenschlägen über die riesigen Plattenschüsse des Antelao. Die wenigen Bergsteiger die den Gipfel heute besuchten, hasten nun mit enormer Eile talwärts, um dem Gewitter zu entkommen. Dann bin ich mit dem Antelao alleine! Und alleine wollte ich ja schon sein. Die Übernachtung ist ja fest eingeplant, jedoch nicht unter diesen Bedingungen. Die Schönheit eines Abends auf dem Berg erleben, eine sternklare Nacht genießen und das Erlebnis mit dem Sonnenaufgang krönen - so hatte ich mir das ausgedacht. Doch nun rütteln bereits erste Windböen an meiner Zuflucht. Und diese steht äußerst hart am Abgrund, hoch über dem Antelaogletscher. Die schlaff dahin baumelnden Drahtseilchen sollen dem Biwak Standfestigkeit geben und mir das Gefühl, dass sie auch noch für die kommende Nacht hier am Platze haften bleibt. So begebe ich mich gefügsam in die Obhut meines kleinen, roten Häuschens. Erste Blitze erhellen für Augenblicke den Ort, der sich nun anschickt schaurig zu wirken. Ich schließe die knarrende Tür, lege den schweren Metallriegel vor und schlage die Luke zu. Das Stakkato beginnt! Sturm, Blitz, Donner, Hagelschlag rütteln an die Zuflucht und mehr noch an dem Mensch, der jetzt fröstelnd im Schlafsack steckt. Es knirscht, ächzt und stöhnt, und die Halteseile schlagen auf die Blechhaut ein. Tiefer drücke ich mich in den Sack, der Schlaf verheißt und doch nicht kommen will. Bibbernd horche ich dem Tosen der Elemente. 
Stunde um Stunde tobt und jammert die Welt. Ich weiß nicht wie lange - vielleicht drei, vielleicht vier Stunden. Und irgendwann muss es dann ruhiger geworden sein, und irgendwann muss ich wohl gnädig weggedämmert sein. Wie erwähnt, nun ist es 20.00 Uhr. Teils ist es ein natürliches Bedürfnis, teils ist es Neugier, das mich mehr als unwillig aus der Hülle meines Schlafsackes treibt, die nun doch ein erträgliches Maß an Wärme bietet. Die Tür dreht sich widerwillig und stöhnend nach außen ...und... befinde mich im großartigsten Theater der Welt. 
Lichtkaskaden ergießen sich durch nun öffnende Wolkenschichten. Kein helles, blendendes Licht, nein es ist ein sanftes, durch den Raum schwebendes unwirkliches Leuchten. Aufsteigende Talwolken verwirbeln zu filigranen Schleiern, getönt in den warmen Farben des späten Sonnenrots. Der Gletscher tief unter mir hat eine rosa Färbung erhalten. Neuschnee leuchtet in den Karen, Eisglätte schimmert auf den Felsen - darüber bildet sich ein Baldachin aus jetzt feurigem Rot. Im Osten wölbt sich ein Halbkreis zum Farbenring, fast zum Greifen nah. Ein Regenbogen, der als solcher zu bezeichnen eher ein geringschätziger ist. Vor mir recken sich Gipfel hoch, in milder Lichtwärme leuchtend. Am Morgen hatten sie noch einen Namen, doch nun ist die Welt jungfräulich, so, als wäre sie soeben erst erschaffen. 
Ich löse mich aus meiner Starre und falle wieder dem alten Jagdfieber anheim, Bilder machen zu müssen. Ich weiß, dieses Schauspiel wird von kurzer, irdischer Dauer sein. Hastig greife ich zu Foto- und Filmkamera, um ein Ereignis festzuhalten, das später bei Betrachtung doch nur ein unbefriedigendes sein wird. Den Eindruck des unmittelbar Dabeigewesenseins, kann ein Filmstreifen, ein Foto, niemals vermitteln. Kurze irdische 30 Minuten sind vergangen, die Schatten der aufziehenden Nacht nehmen dem Leuchten die Kraft. Ein letztes Grummeln des Gewitters verebbt orientierungslos zwischen dem Felsgeschröff, ein zartes Rosa noch, dann senken sich die Sterne herab. Funkelnde Irrlichter überziehen die Welt. Ich ziehe mich zurück in mein Bergschneckenhaus, ziehe mich noch tiefer in den Schlafsack. Aus meinem Walkman erheben sich der Andacht angemessen die Töne von Beethovens 5. Symphonie und die schönen Klänge der Musik von Kitaro. Nie habe ich Musik eindringlicher empfunden, und vielleicht bin ich nie gelöster, als in dieser Nacht am Berg. 

Lange lag ich noch wach und habe nun so einige Mühe, gegen 5.00 Uhr aufzustehen. Bei Sonnenaufgang möchte ich auf dem Gipfel des Antelao stehen. Hastig winde ich mich aus meiner Schlafhülle, stopfe irgendetwas in den Mund und steige an. Die Gipfelfelsen sind recht steil und Eisglätte schimmert im frühen Licht. Nach 30 Minuten stehe ich am höchsten Punkt. Gerade rechtzeitig, um die Sonne hinter den östlichen Bergen hochsteigen zu sehen. Ein Rausch aus warmen Farben ergießt sich raumgreifend über die Gipfel. Die wunderschöne Gestalt des Monte Pelmo dort im Westen ist nun zum Greifen nah. Noch wird sie von der Pyramide des Antelao beschattet. Doch dann windet der Pelmo sich mehr und mehr aus der düsteren Umklammerung des Königs. Cortina d'Ampezzo tief unten im Boitetal harrt noch im Dunkel der vergehenden Nacht. Die Straßenlaternen funzeln ihr schwaches Licht herauf. Wind setzt nun ein und treibt mir Feuchte in die Augen; und ich spüre, dass die Feuchte auch bei Windstille haftet. Die Strahlen der Sonne erwärmen mich nun äußerlich - innerlich bin ich es schon längst. Dieses Erlebnis am Morgen steht dem am vergangenen Abend in seiner Schönheit fast nicht nach - und doch ist es anders. 
Als der Tag vollends ausgeleuchtet ist, steige ich abwärts. Ich räume das Biwak auf, trage mich im Hüttenbuch ein und schultere den Rucksack. Mit Gemach aber tiefer, innerer Befriedigung steige ich talwärts. Später, als ich die ersten Tagesgäste begrüße, die sich im Anstieg befinden, fühle ich bei aller Freundlichkeit doch eine gewisse befremdliche Skepsis zu spüren, über den Sonderling, der dort am frühen Morgen den Berg hinunter stolpert. Nun, mein Erlebnis werden diese Tagesgäste nie haben. Das teile ich nur mit "König" Antelao. 

Anmerkung: Das Biwak wurde im November 2014 durch einen Felssturz zertrümmert 

 

 

5. Abenteuer Lagorai

 

Das patschende Geräusch, das aus meinen Schuhen dringt, ruft in mir alles andere als angenehme Gefühle hervor. Bei jedem Schritt wird der am Schaft meiner Bergschuhe eingedrungene Schnee zu kalter, unangenehmer Flüssigkeit zermatscht - und an Schnee herrscht kein Mangel. Der Sommer ist erst wenige Tage jung, die Ausmaße der Schneefelder noch gewaltig, nackter Fels eher spärlich. Nun stehe ich am oberen Rand einer Steilrinne und bin soeben im Begriff, etwas Blödsinniges zu tun…

Ich befinde mich in den Lagorai-Bergen, einem Randgebirge der Dolomiten. Einsam und menschenleer! 8 Tage bin ich bereits unterwegs. Wieder mal hatte mich das Fieber gepackt, in abenteuerlicher Natur meine innere Balance zu finden. In den vergangenen Jahren hatte ich mehrere Dolomitenhöhenwege durchwandert. Sie waren für mich sehr schöne Erfahrungen, die ich auf keinen Fall missen möchte. Doch immer störte mich etwas daran: Die Wegführung war vorgeschrieben. Nicht zwingend - doch bei zuviel Abweichung auf derselben, wäre der Charakter dieser Wege nicht gewahrt gewesen. So saß ich dann viele Wochen zuvor zuhause über einem Haufen Kartenmaterial und vollführte geistige Wanderungen. Endlich, so schien mir, hatte ich eine geeignete Route ausgearbeitet. Eine Rundtour plante ich, die mich in etwa 15 - 20 Tagen von der Seiseralm ausgehend auch wieder dorthin zurückführen sollte. Vor einer Woche nun stieg ich hinauf zum Schlern. Weiter über den Klettersteig zur Tierser Alpl Hütte, und dann hinüber in den Rosengarten. Dieser wurde über verschiedene Spitzen und Scharten durchquert. Über den Karerpaß hinweg dann in das mir noch unbekannte Latemargebirge. Jenseits dann durch ein wildromantisches Hochtal abwärts zum Fleimstal. Gegenüber erhebt sich der langestreckte Zug der Lagoraiberge (von der Gesteinsart her sind diese Berge nicht den Dolomiten zugehörig). Vom Latemar hatte ich schon einen guten Ausblick zu diesen düster wirkenden, mit großen Schneefeldern gesprenkelten Bergen. Absolut unbekannt war mir diese Berggruppe noch. Noch nicht mal deren Namen hatte ich vorher gehört. Die Nacht verbrachte in der kleinen Cauriolhütte, am westlichen Rand des Lagorai. Fast gänzlich ist die Hütte mit Utensilien des Gebirgskrieges ausstaffiert. Als einziger Nachtgast der Herberge wurde ich zum Schlafen im Verschlag über dem Schankraum untergebracht. 
Nach der Verabschiedung vom kleinen Hüttenjungen - dieser regelte alles in der Hütte alleine, weil der Senior meist mit der Flasche zu tun hatte - (im übrigen war das auch die billigste Übernachtung in meinem bisherigen Hüttenleben) - steige ich aufwärts ins Reich der Stille. Die Ouvertüre der Einsamkeit für die kommenden Tage beginnt. 
Düster, die Stimmung verwunschen, wölbte sich ein flacher Himmel über die Gipfel. Nebel steigen aus den vielen kleinen Seen hoch, die sich inmitten dieser Bergkette verstecken. Diese Bilder rufen geradezu auf, nach Berggeistern, Kobolden und Feen Ausschau zu halten. Leichter Regen setzt ein, ein paar Schneeflocken mischen sich dazu. Mühsam versuche ich einer Spur zu folgen, die dann meistens doch keine ist, weil der Altschnee alles verdeckt. Nach einer letzten Biegung werde ich dann am Nachmittag meiner Unterkunft gewahr. Es ist eine kleine Holzhütte, dunkel und ganz unüblich der anderen Biwakschachteln, die ansonsten blechern und von roter Farbe, verstreut im Gebirge herumstehen. Der Name: Biv. Paolo e Nicola. Es folgt eine lange unruhige Nacht. Nur der Wind pfeift seine schaurige Melodie. 
So begebe ich mich dann am Morgen auch schon recht früh auf die Etappe, die mich hoffentlich heute zum Rollepass, dem Eingang zur Palagruppe bringen wird (die Pala sollte von mir in einer Rundtour durchstiegen werden, um dann nordwärts zur Marmolada, zum Langkofel und endlich zurück zur Seiseralm zu gelangen). Doch bis dahin ist es noch recht lange, und habe dafür auch überhaupt noch keine Gedanken. Der Morgen beginnt recht sonnig. So fällt es mir nicht schwer, als erstens die Cece (2754m) zu besteigen. Es ist diese die höchste Spitze in der langen Lagoraikette. Etwas leichtsinnig steige ich hernach dann über die steile, brüchige und vermeintlich kürzere Nordflanke weglos ab. Eine weitere Erfahrung folgt dann umgehend am Fuße der Cece, als ich dort auf einem langgestreckten, leicht abfallenden Altschneefeld den Halt verliere. Mehr als hundert Meter rutsche ich auf dem Ellbogen talwärts; nur weil ich meine Filmkamera schützen will, die ich in der Hand halte. Dass der Schnee zu dieser Jahreszeit kristallscharf ist, bemerke ich nach Augenschein meines Armgelenks - total durchgescheuert! Der Schmerz wird aber erträglich dadurch, dass ich mich nun gänzlich auf den Weg konzentrieren muss. Ausrüstung für Schnee habe ich dafür nicht im Rucksack - eben weil die Erfahrung noch fehlt. So wird der eingedrungene Schnee in den Schuhen rasch zur Qual. Die Füße haben das Aussehen angenommen, wie man es nach einem mehrstündigen Bad hat. Immer wieder breche ich im Tiefschnee, in die nicht sichtbaren Aushöhlungen bis zu den Schultern ein. So nach und nach wird nicht nur mein Körper müde, sondern auch die Psyche hat ihr Selbstvertrauen schon längst eingebüßt. Hätte ich das Biwak bemerkt, das irgendwo in der Nähe stand, wäre ja noch alles gut geworden. Dann hätte ich noch eine Nacht im Lagorai verbracht, um am nächsten Morgen ausgeruht den Rollepass zu erreichen (von einem Biwak wusste ich derzeit aber nichts, weil es recht neu und in meiner Karte noch nicht eingezeichnet war). 
Wie eingangs erwähnt - ich bin soeben dabei, etwas Blödsinniges zu machen. Zermürbt wie ich jetzt bin, will ich durch diese sehr, sehr steile, schneegefüllte Rinne, etwa 20 Meter breit,  absteigen. Deshalb eben, weil die Orientierung weitgehend weg ist, der Nachmittag bald endet und das Ziel vermeintlich südöstlich der Gebirgskette liegen muss. Etwa fünfmal starte ich den Versuch einzusteigen, um dann jedes Mal - eine Restvernunft in mir sagt, mach das nicht - einen Rückzug zu machen. Und dann mache ich es doch! 
Nach wenigen Metern Abstieg bin ich mir der Dummheit und des Wahnwitzes voll bewusst, dessen ich mich nun aussetze. Hellwach bin ich jetzt. Etwa 180 Meter tiefer liegen riesige Felsbrocken. Ich male mir aus, dass ein Ausgleiten unweigerlich an diesen Brocken enden würde! Einige Steine vom stark verwitterten Randbereich stürzen jetzt mit enormer Wucht und Geschwindigkeit an mir vorbei durch die Rinne. Gottlob vorbei, denn der Versuch des Ausweichens würde für mich auch nur den Weg der Steine folgend bedeuten. Rechts und links ragt der Fels steil hoch - es gibt kein Ausweichen. Nach Ausmalung aller schrecklichen Szenarien, steige ich sofort wieder an. Es bleibt beim Versuch. Langsam rutscht mein Fuß weg. Zu riskant! Also trete ich die Flucht nach vorne an, das heißt in diesem Fall: nach unten! So kläglich mir auch zumute ist, nehme ich nun doch alles an Disziplin zusammen, die ich noch zu haben glaube. Und ich wundere mich - selbst in dieser Situation - dass ich weitaus mehr davon habe, als jemals angenommen. Und die Disziplin wächst sogar! Schrittchen für Schrittchen, unendlich langsam, den Steigfuß jeweils dreimal kräftig in den Schnee rammend, bevor ich ihn belaste, geht es zentimeterweise nach unten. In den Fingern verspüre ich heftigen Kältescherz, die sich haltsuchend im Schnee festklammern. Die körperliche und geistige Anspannung lässt den Schmerz aber bald gnädig vergessen. Das Leichtstativ meiner Filmkamera benutze ich als stützenden Pickel. Die Lächerlichkeit meines Tuns, aufgrund der unbrauchbaren Wirkung dieses Teils, bin ich mir in meiner Lage sogar voll bewusst. Es ist halt der berühmte Strohhalm - wirkungslos, doch psychisch ungemein wichtig. Der Schnee über den Felsen ist nicht mehr sehr mächtig, eher dünn. Deshalb auch die Gefährlichkeit, darauf wegzurutschen. Eine dunkle Wolke schiebt sich vom Schluchtgrund hoch. Diese schickt mir ein Grollen entgegen, das sich schaurig an den Felswänden bricht. Erste dicke Tropfen klatschen in den Schnee, Blitze erhellen für Momente das Geschehen - ich versuche meinen Abstieg zu beschleunigen. Doch sogleich schlage ich meinen alten Geh-Rhythmus wieder an, als die Füße ein Gleiten signalisieren. Die Lage bleibt leidlich kalkulierbar. 
Etwa 90 Minuten mögen vergangen sein. Das Zeitgefühl habe ich beim Abstieg längst verloren - doch ich bin unten! Nachdenklich schaue ich auf die gewaltigen Gesteinsblöcke, die von oben gesehen Horror vermittelten. Doch nun können sie mir nichts mehr anhaben. Nach oben hin ist die Sicht durch die Gewitterwolke gnädig zugedeckt. Viel empfinde ich auch nicht mehr zu diesem Zeitpunkt. Ich haste einfach talwärts, bar jeder Orientierung. Mal meine ich eine Spur zu sehen, mal ein Pfad - doch stets ist es Täuschung. Keinerlei Rücksicht mehr auf körperliche Unversehrtheit nehmend, treibe ich mich über glitschigen Boden abwärts. Ich orientiere mich an einem Rinnsal, folge ihm... das führt schließlich zu einem Bergbach... und endlich stehe ich auf einem Wirtschaftsweg. 
Zwei Stunden weiter: Wohlig warm, bei einer Flasche Wein, sitze ich in einer Holzfällerbehausung. Ein kräftiges Abendessen mit großer Fleischbeilage hilft mir wieder recht bald zu Kräften. Die Unterhaltung ist eher karg. Die bärtige Fällertruppe schaute mich zwar etwas eigenartig an - wohl aufgrund meines abgewrackten Erscheinungsbildes - doch diese haben wohl andere Sorgen und legen sich bald Schlafen. Ich selber habe eine tiefe und traumlose Nacht. Erst die folgende wird zum Grauen... 
Einen ganzen Tag habe ich zu Fuß und per Anhalter gebraucht, den Rollepaß zu erreichen. Im Lager der Passhütte erlebe ich mein Abenteuer dann in einem schlaflosen Dahindämmern noch einmal ausgiebig und in beklemmender Scheinrealität. Grausam! 

Am nächsten Morgen beim Aufstieg in die Palagruppe bekomme ich bei jeder Überquerung eines Schneefeldes Brechreiz. Dort im Lagorai ist etwas Tiefes und Einschneidendes mit mir passiert, das mich auch in Zukunft wohl noch eine ganze Weile beschäftigten wird. Kurz entschlossen wird die Palagruppe dann ausgeklammert, um keinen Schnee mehr sehen zu müssen. Als ich dann beim Abstieg nach Falcade bei Überquerung eines Bergbaches auf einem glitschigen Steg ausrutsche - und dann auch noch rein falle; und die Filmkamera den Nässetod erleidet - ist es endgültig um meine Moral geschehen: Abbruch und per Bus zurück nach Seis. 

Später dann sah ich mein Erlebnis nur noch als positiv an. War ich doch nie zuvor und nie danach in meinem Leben so konzentriert und diszipliniert, wie an jenem Tag in den Bergen der Lagorai-Gruppe. 

 

 

6. Das Leuchten am Pass

 

Ich war auf dem Dolomitenhöhenweg 2 unterwegs, meiner ersten großen Gebirgswanderung. Diese Tour wurde für mich das prägende Erlebnis vieler zukünftiger Jahre. Deshalb hat die folgende Schilderung für mich auch sehr viel Bedeutung erlangt. Eigentlich ein Erlebnis, so klein und bescheiden, dass es für einen Außenstehenden überhaupt nicht bemerkt wurde - ein Mosaiksteinchen nur. 
Begonnen hatte alles an einem Montagmorgen in Brixen, im Eisacktal. Dort am nordwestlichen Rande der Dolomiten hatte ich meine Tour gestartet, mit viel, viel Gepäck im großen Sack, der meinen Rücken zur Gänze ausfüllte. So war ich nun im Begriff, meine erste Weitwanderung zu starten, die mich in etwa 12-14 Tagen quer durch die Dolomiten bis nach Feltre, am Südrand des Gebirges führen sollte. So stand ich nun hoch oben auf der großen Almfläche des Plose vor jenem Markierungsstein, der den Beginn des Höhenweges anzeigte. Etwas verzagt stieg ich in eine Welt ein, die voller, für mich noch ungelöster Rätsel steckte. Grau der Himmel, grau das Gestein - und ein kühler Wind treibt mir Feuchte in die Augen. Die Bergschuhe eine Nummer zu klein. Hatte mir doch niemand gesagt, dass im Laufe des Tages die Füße an Umfang zulegen. Schmerz, Einsamkeit und Ermattung legen sich aber bald, als ich den Anstieg zur Schlüterhütte geschafft habe. Der Raum füllte sich rasch mit Wanderern, die ebenso meinem Ziel folgen, den Höhenweg 2. Die Stimmung beim Wein steigt am Abend mächtig an. So wird mein erster Hüttenaufenthalt zur prägenden Erinnerung. Bei späteren Touren konnte ich dann schon differenzieren, wer als angenehmer Gesprächspartner einzustufen und wer gerne den Prahlhans und Wichtigtuer machte. Das hatte ich schon schnell begriffen! 
In der übernächsten Nacht durfte ich einen ausgemachten Nachtfrost durchzittern, und in der darauf folgenden einen Sturm im Hochgebirge. Und Tage weiter, schon jenseits der Marmolada, als ich völlig geschlaucht von der Tagesmüh schon reichlich deprimiert die Tour deshalb abbrechen wollte, weil die italienische Hotelmanagerin am Pelegrinopass mich als Scheissdeutschen bezeichnete, hatte ich mein psychisches Zittern. Ich hatte mir die Frechheit herausgenommen, in deren Hotel nächtigen zu wollen. Wohlgemerkt - Rucksackgäste gehörten nicht zur bevorzugten Klientel im Berg-Boom mit finanzstarken Pauschaltouristen. So hatte ich in meinem kurzen Berglerleben in wenigen Tagen schon viel gelernt. Aber auch begriffen, dass man nicht so schnell aufgeben soll. Am nächsten Morgen schien die Sonne schon wieder so prächtig, dass mich die Landschaft förmlich aufsog. Hinauf ging es in die Palagruppe. Ein wundervolles Reich. Die Reihen derer, die sich aufgemacht hatten nach Feltre zu marschieren, waren bereits soweit gelichtet, dass sie nur noch aus einem Ehepaar und meiner Person, dem Bergsolisten, bestand. Das hatte ich dann auch schnell gelernt, dass zwischen Wollen und Tun gewaltige Lücken klaffen können. 
Bisher hatte sich die Bergsonne in fröhlichster Laune gezeigt und lud geradezu ein, weiter in das Reich der "Bleichen Berge" einzudringen. Doch nun am Südrand der Palagruppe wird auch die Sonne bleicher. In der lückenhaft gefüllten Trevisohütte tut dann der brennende Kamin für den Körper schon etwas Gutes. Und die Seele lässt sich auch recht angenehm baumeln; dafür sorgt schon der Geist aus der Flasche. 
Die Luft steht bleiern am Morgen - und es tröpfelt. Im schon fortschreitenden Tagesverlauf und nach Prüfung aller Unwägbarkeiten, die ein schlechtes Wetter am Berg mitbringen kann, entschließe ich mich dann doch, den Weg zum Ceredapass noch heute zu gehen. Dieser führt recht lang und durch eine bei dieser Wetterstimmung trostlos wirkende Einsamkeit über den Kamm, der Südtirol vom Veneto trennt. Alle Tage hatte ich es bisher vorgezogen tagsüber alleine meinen Weg zu machen. Ich wollte meinen Gedanken nachgehen, Zeit zum Filmen haben und vor allem die Seele ausloten. Doch nun ziehe ich es vor, mich dem Ehepaar anzuhängen. Es wird düster und düsterer…, und auf den Felsgraten wird es sogar fürchterlich. Ein Gewitter ist mittlerweile dermaßen grauslich aufgezogen, dass selbst bei aller vorantreibender Anstrengung, stille Verzagtheit und Ergebenheit ins Schicksal die Abenteuerlust merklich ausbremst. Der Weg erscheint mir endlos; und der fehlenden Sicht wegen glaube ich mich im Kreise zu bewegen. Es dauerte Stunden, doch dann stehen wir endlich und total verdreckt vor der Herberge am Ceredapass. 
Platz ist genügend im pensionsartig geführten Haus. Der Sommer hat sich bereits verabschiedet. Hier fühle ich mich sofort aufgenommen: gedämpftes Licht, beschlagene Scheiben, draußen tobendes Unwetter, drinnen anheimelnde Wärme. Die Wirtsleute strahlen eine stille, unaufdringliche Ruhe aus - fast scheu. Wir sind naß bis auf den letzten Fetzen Stoff und noch ein bisschen mehr. Zwischen den Vorräten im Keller, an der Heizanlage, dürfen wir unsere Sachen ausbreiten - zum Trocknen. Nach und nach treffen noch einzelne kleine Bergwandergruppen ein, die ebenso dem Unwetter entkommen sind. Nach der Aufwärmphase findet sich in unserer Zuflucht doch noch eine kleine gesellige Gruppe zusammen. Allerlei Erzählbares gilt es auszutauschen, und so manches Tröpfchen gilt es noch zu süffeln. 
Im Halbdunkel des Aufganges zum Schlaftrakt war mir vorher, eher so beiläufig, ein unscheinbares Poster aufgefallen. Doch nun schaute ich es mir etwas genauer an: Eine Fotografie, schwarzweiß belichtet, im Hintergrund und etwas verschwommen, mächtig aufragendes Gebirge; im Vordergrund, auf einer blumengesprenkelten Almwiese, ein Holzkreuz mit Heiligenfigur - so wie man sie oft im Gebirge findet. Davor ein Bergbauer, schmächtig in seiner Gestalt, schon recht bejahrt, den Rücken etwas gekrümmt, die Hände zum Gebet gefaltet und den Kopf halb hoch gewendet, zum blumengeschmückten Wegkreuz. Alles eigentlich nicht so sehr beeindruckend für mich, bin ich in meiner Frömmigkeit doch eher erdverbunden. Aber - und das irritiert mich - es geht ein sonderbares Leuchten von diesem Bildnis aus; und es fordert mich dazu auf, ganz nahe heranzutreten, um dessen Szenerie zu verinnerlichen. Es sind die Augen des alten Bergbauern: flehend schauen sie hoch, mit eindinglicher Kraft und doch mit einer Geste, die viel, viel Demut vermittelt. Nie vorher habe ich solch' flehenden Blick gesehen. Mir läuft diese Gänsehaut über den Rücken, wie man sie bei einem besonderen Erlebnis bekommt. Warum betet der alte Mann so eindringlich? Ist seine Frau verstorben, hat er möglicherweise ein Kind verloren - oder welch' anderer großer Schaden mag sein Leben verändert haben? Mich beschäftigt diese Frage noch sehr oft am Abend. Mehrmals stehe ich an diesem späten Tag noch im Zwielicht des Treppenhauses, um dieses Bild eindringlich zu betrachten. Seine Leuchtkraft füllt seltsamerweise die düstere Umgebung seines Platzes voll aus. 
Der nächste Tag ist ebenso düster, und der Regen prasselt unaufhaltsam weiter auf die Natur nieder. Ich lungere herum, man lungert herum, trinkt etwas, man schläft etwas, vertritt sich im Regen etwas die Füße... und hofft endlich auf den Sonnenstrahl, der dazu auffordert, den Höhenweg fortzusetzen. Nun, dieser Strahl lässt sich auch am 3. Tag nicht sehen. So steht dann schnell fest, dass ein jeder den Weg sucht, der irgendwann nach Hause führt - per Bus und Bahn oder Auto. Beim Verlassen der Herberge werfe ich noch einen Blick auf "mein Bild" - es hat seine Leuchtkraft behalten. Und in den Jahren danach leuchtet es in meiner Erinnerung still weiter. 

Jahre später! Mittlerweile bin ich schon so manchen Höhenmeter durch die Dolomiten gestapft, habe so manche Erfahrung gesammelt und habe auch schon etwas von jener Unschuld verloren, die so ein Bergunerfahrener noch hat, wenn er am Beginn großer Wanderungen steht. Wieder habe ich mich der Palagruppe genähert. So recht mit Absicht bin ich auf verschlungenem Weg zur Trevisohütte gelangt. Geplant ist, den Höhenweg 2 nun endlich zu Ende zu führen. Nochmals will ich über den Grenzkamm zum Ceredapass steigen, um diesen Weg bewusst im Sonnenschein erleben zu können; von dem ich doch nichts anderes in Erinnerung habe, als jenes schreckliche Unwetter damals. 
Hochsommer ist es und drückende Schwüle liegt in der Luft. Schon bald riecht es wieder nach Gewitter. Schon blitzt und donnert es in den umliegenden Bergen. Wiederum muss ich meine Füße in die Hand nehmen und haste Richtung Ceredapass. Doch diesmal erreichen mich die ersten Tropfen erst, als ich die Türe des Passhauses schon gesichtet habe. Alles so unbekannt - bin ich auch richtig hier? - schaue ich mich fragend um, und lasse meine Augen schweifen, um Orientierung zu finden. Der Gastraum ist umgestaltet, Wände sind umgesetzt, alles wirkt etwas moderner - und auch heller. Die Wirtsleute sind nun jünger und italienisch forsch. Lebhaftes Gemurmel und Gläserklang hallt durch den Gastraum. Kinder schreien, und alles ist sonntäglich prall gefüllt. Noch ist es Mittagszeit. Ich finde irgendwo ein freies Plätzchen, bestelle mein Mahl und ein Getränk dazu. Doch dann pocht in mir eine leise Ungeduld: Ist "mein Bild" noch am Ort? Oder vielleicht doch wahrscheinlicher: Ist es in der Zwischenzeit der modernen Umgebung zum Opfer gefallen? Endlich stehe ich auf, um meinem Unbehagen und der Ungewissheit ein Ende zu bereiten... Ja, es hängt noch an seinem Platze, im schummrigen Treppenhaus. Etwas angestaubt zwar, etwas verblichen, aber scheinbar unverändert. Doch so sehr ich das Bild nun auch aus allen Blickwinkeln betrachte, die Faszination, die damals davon ausging und die ich in all den vergangenen Jahren verinnerlicht hatte, sie ist verschwunden. Ich suche nach einem erklärbaren Grund? War es die anheimelnde Wärme und Geborgenheit meiner damaligen Zuflucht, die nun verloren gegangen scheint; oder war es die zur Melancholie neigende frühherbstliche nasse und nebelige Stimmung, die nun doch so ganz fehlt? Draußen scheint die Sonne schon wieder in nachmittäglicher, blendender Pracht. Die Umgebung stimmt ganz einfach nicht mehr mit dem Damals überein. Etwa so, wie bei einem Kalenderblatt aus vergangenen Zeiten, das man vergaß, zu entfernen. Das Bild hatte seinen angestammten Platz, seine Heimat verloren! Ja, so musste es wohl sein. 
Zufrieden bin ich mit meiner Erklärung jedoch nicht. Irgendwie spüre ich tief in meinem Inneren, dass  womöglich ich selbst der eigentliche Grund bin. Damals war ich erfüllt von den Ereignissen meiner ersten langen Bergwanderung, und war wohl auch benommen von der Stille und Einsamkeit, der ich mich auf meiner Wanderung oft ausgesetzt fühlte; und war wohl auch erfüllt von einer leisen Demut, die man nur zu bestimmten Zeiten und in gewissen Situationen erfühlt und verinnerlicht. So ein Tag muss gewesen sein. Und all das zusammen musste wohl das Licht erzeugt haben, welches ich eindrücklich erlebt hatte. Und ich spüre - das ist der wahre Grund für das "Leuchten" am Pass. 

 

 

 

7. Val di San Lucano - Traum und Alptraum

 

Die schlanke Silhouette des Monte Agner wirkt wie eine Laterne über dem Val di San Lucano. Sie zündet ihr Licht jedoch erst am frühen Morgen, wenn die Sonne sich anschickt, den Tag freundlicherweise auszuleuchten. 
Etwas griesgrämig schaue ich aus verquollenen Augen dem neuen Tag entgegen. Die Nacht hat wenig Schlaf gebracht. Widerwillig würge ich zum Frühstück einen Happen hinunter; ein Schluck kalter Milch fördert das ganze schließlich abwärts. Meine Gedanken sind auf jene große Schlucht fixiert, die hinauf zum Biv. Bedin führen soll. Der Boral delle Besausega. 
Es ist dies der dritte Versuch der letzten Tage. An den beiden vorhergehenden hatte der Himmel mehr Nässe denn Sonne gebracht. Um nicht am Fleck verharren zu müssen, hatte ich per Auto jene Berge aufgesucht, die sich östlich der Dolomiten erheben. Einige Dörfer abseits der Hauptstraßen wurden ebenso Programm, als auch einige schmucke Kirchen. Einen weiteren verregneten Tag verbrachte ich dann damit, Bergblumen im Feuchteglanz zu fotografieren. Und es regnete weiter! Es schien, als hätte die Natur eine panische Angst, dass ohne ihre Ergüsse die gesamte Menschheit verdursten müsste. In meinem mitgebrachten Buch "Herr der Fliegen", kam ich deshalb den feuchten Umständen entsprechend recht gut voran...

Das Val di San Lucano begeisterte mich erstmals, als ich wenige Jahre vorher über die Berge der östlichen Palagruppe jenseits vom Val Gares herüber kam. Sogleich fielen mir diese jäh gegen Himmel strebenden Berge auf, die mit ihren Steilwänden das Tal gegen Norden abschotten. Etwas düster wirken sie; und bei wenig Sonnenlicht schauen diese auch nicht ganz so freundlich aus. Ganz anders dagegen die südliche Talbegrenzung. Dort stehen die Wände des Agner-Gruppe. Höher noch als ihre jenseitigen Nachbarn und im hellen Kalkmantel leuchtend. Inmitten aller Schroffheit breitete sich der freundlich anmutende Talgrund von San Lucano aus. Den Schweiß des Tages hatte ich bereits unter paradiesisch anmutenden Kaskaden abgewaschen, die etwas versteckt im ansteigenden Talschluss herunterrauschen. 

Man mag dieses Tal links liegen lassen, wenn man von Agordo kommend das Dörfchen Taibon durchfährt. Doch neugierige Menschen (ich gehöre dieser Gattung an), spüren gerne Unbekanntes auf. Ich besuchte das Tal also ein weiteres Mal. So lenkte ich meinen Wagen, wohlwissend um dessen schöne Geheimnisse, taleinwärts. Ein Wirtschaftsweg jenseits des Talschlusses erlaubt mir die Fahrt bis zu einer Parkbucht auf ca. 1200 m Höhe fortzusetzen. Es ist dies' ein wunderschöner Sonntagmorgen. Ein recht steiler Waldpfad leitet mich auf meinen Profilsohlen höher und höher. Ich dampfe mit der Feuchte, die nun aus den Gräsern hochsteigt um die Wette. Bei Höhe 2000 durchsteige ich die Forc. Gardes. Es folgt  eine überaus herbliebliche, teils recht holprige Hochebene. Alpenrosenfelder leuchten in schwelgerischer Pracht. Eine aufgescheuchte Viper nimmt vor meinen klobigen Bergschuhen hastig schlängelnd Reißaus. Weglos steige ich höher, bis ich die Abbruchkante dieser dunklen Felsgestalten erreiche. Jäh stürzt der Blick von dort ins Leere. Halt suchend tasten sich die Augen an extrem steilen Felsmassen abwärts, die schließlich tief unten im Talgrund ihren Endpunkt finden. Durch üppig wuchernden Latschenbewuchs und kleinen verwunschenen Alminseln versuche ich entlang der Abbruchlinie zu wandern. Ab und an bricht polternd ein Brocken aus den Wänden, der dann mit hohlem, grollendem Klang die Tiefe sucht. Gegenüber, im hellen Licht, räkelt sich der Monte Agner in den Sonntagshimmel. Die Croda Grande zeigt sich nicht minder eitel. Ich versuche den Orsa-Klettersteig auszumachen, der dort hindurch führt. Zwei Jahre vorher hatte ich dieses wenig berührte Stück Natur der östlichen Palagruppe durchstiegen. Im weiteren Verlauf wurde der Tag nun recht warm; flirrend und träge liegt die Luft über den Gräsern. Erst als die Wolken massiger werden und nicht ferner Stunde ein Gewitter versprechen, steige ich hinunter ins Tal. Irgendwann wollte ich wohl wiederkommen, um mehr von diesen Bergen zu erfahren.

Zurück zum Beginn des Berichts: 
...der Regen hatte endlich sein Soll erfüllt. Nun stehe  am Beginn des Pfades, der zum Borral delle Besausega ansteigt. Dieser liegt  etwas versteckt am Ende einer großen Kiesgrube. Über diesen steige ich nun an. Durch dichtes Laubwerk und Gräsern, manchmal kaum fußbreit und arg steil, treibt es mich hoch. Alles ist voller Nässe. Zuviel Feuchtigkeit hat sich in den vergangenen Tagen angesammelt. Nass und träge kleben die Hosenbeine an den Schenkeln. Das Schwitzen schafft zusätzliche Feuchte. Hin und wieder leuchtet der Monte Agner herüber, wenn sich das Baumwerk etwas lichtet. Mein Rucksack ist für zwei Tage gepackt. Die Nacht möchte ich gerne im Bivacco Bedin verbringen. Weiter anstrengend treibt der Pfad höher. Das Rauchen hatte ich gottlob schon vor langen Jahren aufgegeben, und habe deshalb zumindest mit der Luft keine Schwierigkeit. Nach ca. 500 - 600 Metern Anstieg verliert sich die Pfadspur. Suchend versuche ich Markierungen ausfindig zu machen. Blasse, rötliche Flecken sind augenscheinliche Wegweiser; doch diese erweisen sich nur als Farbschattierungen im Gestein. Über grobes Blockwerk nun weiter höher. Eine schluchtartige Einbuchtung leitet auf natürliche Weise bergan. Diese endet dann nach etwa 300 Metern an einem gestuften Steilaufschwung in einer augenscheinlichen Sackgasse. Irritiert schaue ich mich fragend um: keine Markierung, keine Pfadspur. Nichts? Wenn das so weitergeht komme ich in Zeitnot. Der Weg zum Bivacco Bedin ist sehr weit. Dort oben möchte ich zwar übernachten, aber ich möchte auch nicht zuviel der Zeit verplempern, da mir der Weg dorthin nicht bekannt ist. Nun werde ich etwas ärgerlich! Warum zeichnet man Steige in Karten ein, wenn dann doch keine da sind? Da aber der Möglichkeiten nur zwei sind - entweder vor oder zurück - steige ich, dabei jeden Tritt auf lockeres Gestein prüfend, den etwa 10 - 12 Meter hohen recht steilen Aufschwung an. Eine Felsnase lugt an dessen oberen Ende aus dem erdigen Gesteinsboden hervor. Prüfend drücke ich mit Handkraft dagegen, ob diese auch genügend Festigkeit hat, um mein Körpergewicht zu halten. Offenbar sind die Bedenken unbegründet. Talseitig, auf dem rechten Bein das Gewicht verlagernd, ziehe ich mich hoch. Doch dann muss plötzlich sehr viel Verwunderung in meiner Mimik liegen, als sich scheinbar in Zeitlupe diese Felsnase löst. Die Gedanken sausen nun durch den Kopf - in rasender Fülle. Warum hat Luft keine Haken… warum stehe ich auf dem rechten Bein, warum nicht auf dem linken? Wird der Aufschlag sehr weh tun…? Der Weg nach unten ist noch kaum begonnen, und doch ist er innerlich bereits vollzogen. Scheinbar tausend Gedanken eilen den Geschehnissen voraus, die nun doch unabänderlich werden. In einer Reflexbewegung stoße ich mich von der ausgebrochenen Felsnase weg, die sich nun als ein etwa 70 cm starker Steinbrocken erweist. Nur nicht mit diesem zusammen aufschlagen, er wird dich zerschmettern, fliegen die Gedanken durch den Kopf. Ich schlage kurz auf - kopfunter, kopfüber - ich weiß es nicht… schlage nochmals an. Durch die Wucht des endgültigen Aufpralls überschlage ich mich noch einmal. Dann liege ich inmitten des grobschotterigen Abhangs. Stille! Nicht denken, nicht bewegen, nicht atmen. Zwei - drei Minuten lang. Es ist dies eine wunderbare Gnade der Natur, bei großem Körperstress keinen Schmerz zu verspüren. So nach und nach lässt die Betäubung des Körpers etwas nach. Und damit setzt auch das Denken wieder ein. Noch bewegungslos liegend versuche ich eine Diagnose zu erstellen. Anhand der Schmerzpunkte versuche ich meine Verletzungen aufzuspüren. Innere Verletzungen… Brüche… Wunden? Ganz, ganz langsam versuche ich meinen Gliedern mit kaum merkbaren Bewegungen Leben zu geben. Ich taste mit den Fingern durchs Gesicht. Ist noch alles vorhanden? Blut bleibt an der Hand zurück. Schmerz breitet sich nun im Brust- und Bauchraum aus. Die Steine im Fußbereich färben sich rot. Soweit es mir möglich ist, ziehe ich das linke Hosenbein hoch. Im Wadenmuskel ist ein klaffendes Loch. Daraus hervor blutet es unaufhörlich. Ein polterndes Geräusch von oben lässt reflexartig die linke Hand über das Gesicht heben. Aus der Ausbruchstelle kommt ein großer Stein auf mich zugeschossen. Haarscharf am Kopf vorbei! Dieser bringt nun endlich etwas Leben in meine Glieder: Mir scheint, soweit ich das nun erfühlen kann, dass nichts gebrochen ist - zumindest nicht an den Gliedmassen. Mühsam versuche ich den Rucksack hinter mir hervorzuziehen. Die Reise-Apotheke befindet sich natürlich ganz unten. Mit Mullbinden versuche ich die Blutung des Wadenmuskels zu stoppen. Ich ziehe mein Hemd aus der Hose, um die Bauchfläche zu sichten. Oberkörper und Arme sind auf der gesamten Hautfläche tief zerschrammt. Es fällt mir nun auf, dass ich auch eine Brille hatte? Diese sichte ich 3 Meter oberhalb im Schotter liegend. Ich öffne die Kameratasche: Das Objektiv steckt windschief, der Kamerakörper selber hat arge Blessuren. Der Rucksack hat Löcher und Risse, meine Kleidung ebenfalls. Kraftlos wie ich mich augenblicklich fühle, mache ich einen ersten zaghaften Versuch eine aufrechte Stellung zu erreichen. Stöhnend komme ich langsam hoch. Die Beine tragen also. Und dann werde ich ärgerlich: so ein blöder Felsbrocken - er verleidet mir den Tag. Ich werde weiter hochsteigen und das Biwak erreichen. Ja, das will ich! Die Mullbinde ist bereits wieder durchtränkt und wechsle sie erneut. Nun bekomme ich Heißhunger und verschlinge hastig einen Apfel. Wenn das geschieht, so weiß ich aus Erfahrung, stimmt mit dem Kreislauf etwas nicht. Der Schmerz beginnt jetzt überall. Mein Denkvermögen kommt nun nach und nach wieder zu realistischen Betrachtungen. Und diese sagen mir nun sehr deutlich, dass es nur abwärts gehen kann - und nicht etwa nach oben. Langsam, ganz langsam taste ich mich talwärts. Nach zwanzig Metern ist wieder eine neue Mullbinde fällig. Diesmal stelle ich einen ordentlichen Druckverband her. Endlich erreiche ich den Aufstiegspfad. Immer schön an Zweige klammernd schleife ich mich talwärts. Nach gut weiteren zwei Stunden lasse ich mich erschöpft in die Polster meines Wagens fallen. 
In Gedanken steige ich dann noch mal hoch. Wie konnte das passieren? Mein Glück - so denke ich - war wohl mein Rucksack. Dieser muss mich letztlich beim Aufschlag geschützt haben, und hat mich wohl so auch vor ärgsten Verletzungen bewahrt. Die Wunde im Bein muss ein spitzer Stein verursacht haben. Ich ziehe die zerlöcherte Kleidung aus, neue an, und versuche ein wenig Pflege meinem geschundenen Körper angedeihen zu lassen. Soll ich den ADAC benachrichtigen, um den Wagen nach Hause bringen zu lassen, überlege ich? Und fahre dann doch selber, weil ich das Bedürfnis habe, auf dem schnellsten Wege nach Hause zu eilen. 
Später auf der Autobahn kann ich mich im Sitz kaum noch rühren - ich versteife förmlich. Das lädierte Bein wird immer dicker, und das Treten der Kupplung wird zur Tortur. Sehr spät am Abend und 900 km weiter liege ich in meinem Bett. 
Außer Narben nichts, weiß ich später. Kein Bruch, keine inneren Verletzungen. Eine knappe Woche Bewegungslosigkeit, dann geht es wieder aufwärts.

Zwei Jahre weiter. Wieder bin ich auf dem Weg zum Biv. Bedin. Ich will es noch mal wissen. Ab einer bestimmten Höhe halte ich intensiv Ausschau, weshalb ich wohl damals falsch gelaufen bin. Der richtige Weg, so dämmert es nun, biegt links weg. Ich hingegen bin damals geradeaus weiter gegangen. Der Grund: Der sehr schmale Pfad war fast gänzlich von Gras überwuchert. Und ich muss wohl ganz viel geträumt haben an jenem Morgen. 

Nun - auch auf dem richtigen Weg habe ich es nicht mehr zum Biv. Bedin geschafft. Am Ende der großen Aufstiegsschlucht, wo der eigentliche Steig zum Gipfelplateau hinaufführt, hatte ich ganz einfach keine Lust mehr, weiter zu steigen. Sei es nun aus natürlicher Müdigkeit... oder eher, weil ich mittlerweile zuviel Respekt hatte vor diesem besonderen Weg in den Bergen des Val di San Lucano. 

 

 

 

Die Dolomiten-Höhenwege

 

Die Dolomitenhöhenwege im klassischen Sinne führen jeweils mehr oder weniger von Nord nach Süd durch das Hauptgebiet der Dolomiten. Ein weiterer verläuft im östlichen Randbereich jenseits der eigentlichen Dolomiten. Im Laufe der Jahre wurden weitere hinzugefügt - zumeist von West nach Ost. So sehen die Strecken der Weitwanderwege auf den Wanderkarten oftmals wie die Linien auf Schnittmusterbögen aus. Über deren Sinn lässt sich streiten. Ich meine: Nun sind es genug! Für meinen Teil habe ich es so gehalten, dass ich nach Begehung der klassischen "Fünf" - und auch schon zwischendurch - eigene Wege gesucht habe. Alle Wege bin ich vom Grundsatz her alleine gegangen, um meine Gedanken und Gefühle so möglichst von jeder Störung fern zu halten. 
Aufmerksam wurde ich auf dieser Art Weitwanderungen im Jahre 1980, als ich zum ersten Mal den Dolomitenraum betreten hatte. Begonnen hat dann alles mit dem Höhenweg 2. Teilstücke des Wegs waren mir schon bekannt. Deshalb entschloss ich mich zum "2er", weil er am einfachsten begehbar schien. Er reizte mich aber auch ob seiner Länge. Meine Charakterisierungen sind natürlich, wie bei allen Beschreibungen, sehr subjektiv gehalten. Immer kommt es auf den persönlichen Blickwinkel an. Und immer ist das Erlebte auf solcherart Wanderungen sehr entscheidend. Wie hat man die Menschen erlebt, wie war das Wetter, wie die Unterkünfte, die Schwierigkeiten und Strapazen. Also schreibe ich gänzlich aus meinen ganz persönlichen Erinnerungen heraus. Diese würden dann auch für ein ganzes Buch ausreichend sein, doch will ich mich auf das Wesentliche beschränken. Für mich steht und stand nie der sportliche Aspekt im Vordergrund, sondern ausschließlich das sinnliche Erlebnis und die Schönheit des Weges. 
Wettermäßig bedingt ist der Spätsommer bzw. Frühherbst zur Wanderung vorzuziehen. Weil die Gewitterneigung dann stark nachlässt, die Sicht merklich klarer wird und der Bergtourismus in erträglichen Bereichen abgesenkt ist. Hüttenübernachtungen sind auf solchen Wegen unabdingbar. Deshalb Erkundungen einholen, wie lange die einzelnen Hütten geöffnet haben. Im Laufe der Jahre werden aber viele Hütten bis zum Herbst hinein offen gelassen. Dafür hat schon der massenhafte Bergtourismus gesorgt. 
Nun kann es aber auch schon losgehen. Lust zum Laufen mitzubringen ist obligatorisch. Luft auch, denn diese kann schon mal nicht ausreichend sein. Und dann braucht man wiederum die Lust, die Höhenwege auch zu Ende zu gehen. Nur Teilstrecken zu wandern wird durchaus schön sein; aber endlich ist es nur unbefriedigend, weil das Erlebnis der Langzeitwanderung dadurch kaputt geht. Was man im Rucksack tatsächlich braucht ist eher wenig: Ein paar Klamotten zum wechseln, eine Rucksackapotheke - und je nach Höhenweg eine Klettersteigkombination. Am wichtigsten sind eigentlich nur die Schuhe: Fest und knöchelhoch; daran sollte wirklich nicht gespart werden. Proviant nur mitschleppen, wenn unbedingt gespart werden muss. Jedes Kilo mehr mindert das Erlebnis. Wer gerne und ausgiebig filmt und fotografiert hat natürlich mehr auf seinen Schultern mitzuschleppen. Ich spreche da aus leidvoller Erfahrung. Meistens sind die Wege gut ausgezeichnet. Verlassen sollte man sich aber nicht darauf. Deshalb schon zur Übersicht einige Karten mitnehmen. Zur Empfehlung nur soviel: Die Tabacco-Karten sind von ihrer Handlichkeit her nicht immer das Optimale, von der Qualität her fast immer einzigartig. Also los! Am Anfang steht immer die Lust. 
 

 

 

Dolomiten Höhenweg Nr. 1

vom Pragser Wildsee nach Belluno

 

Etwa 150 km weit. Je nach Variante auch kürzer oder länger. Laufzeit bzw. Wanderzeit 10 - 12 Tagen - alles nicht zwingend. Vom Pragser Wildsee steigt man steil zur Seekofelhütte an. Wer am ersten Tag schon recht geschlaucht ankommt, der mag sein Haupt bereits hier betten. Eine gute Stunde weiter steht aber schon die Senneshütte, die womöglich mehr Ruhe bietet. Ich habe in dieser übernachtet. Auf einem nahen Hügel habe ich unzählige Edelweiß gefunden. 
Strahlender Sonnenschein am nächsten Morgen, die Kühe muhen bereits unter meinem Fenster. Dann abwärts nach Pederü. Hier kann es schon recht laut werden. Ein Großparkplatz und Taxi-Verkehr sorgen für Unruhe (Die Taxis sind mittlerweile verboten). Zeit für ein Bier hat man genug, denn nach dem Anstieg zur Faneshütte (oder Varellahütte) ist der Tag schon gelaufen. Den Abend aber möglichst nicht hinter dem Hüttenfenster verbringen. Man befindet sich in der zauberhaften Umgebung der Klein-Fanesalpe. Ich fühle mich wunderbar geborgen in diesem Märchenreich der Sagen, der Seen - inmitten einer Bergkulisse, die das Herz schneller pochen lässt. 
Nach kurzem Anstieg erreiche ich am Morgen den Limosee, der lautlos vor sich hinnebelt. Groß-Fanes ist nun erreicht. Weit wandern die Augen über die vielleicht schönste Alm weit und breit. Sollte schon erster Schnee gefallen sein und das Almgras bereits Gelbtönung angenommen haben, kann ich mir kaum etwas Schöneres vorstellen. Das Panorama der umgebenen Berge ist schlichtweg berauschend. Die Fanesalm habe ich in den Jahren mehrfach besucht - sie wurde zu meiner Lieblingsalm. Nach einem guten Stück Wanderung über die weitläufige Fläche, führt der Steig einige hundert Meter höher zur Forc. del Lago (Wer es anders mag, kann auch eine Variante nehmen, die hinüber zu den Tofane führt). Nun steil hinunter zum Lago di Lagazuoi, der etwas verzaubert inmitten der Berge ruht. Ist Zeit noch im genügenden Maße vorhanden, sollte man sich Ruhe gönnen beim längeren Anstieg zum Rif. Lagazuoi. Denn am Nachmittag kann es dort recht ungemütlich voll sein, ehe die Tagestouristen mit der Seilbahn wieder zum Falzaregopass hinab gondeln. 
Früh am nächsten Morgen, schon vor Sonnenaufgang, stehe ich unweit der Hütte und harre inmitten der ergreifenden Stille dieses Bergmorgens. Am einfachsten wäre es nun, die Seilbahn in Anspruch zu nehmen. Will ich aber nicht, denn erstens hat das nichts mit Höhenweg-Wanderungen zu tun und zweitens kann man sich für den Fahrpreis Getränke an der nächsten "Abfüllstation" genehmigen. Eine dritte Abstiegsmöglichkeit ist der Weg durch den stockdunklen und überaus steilen Tunnel aus Weltkiegszeiten. 1200 Meter lang und kaum kopfhoch ist dieser alte Kriegsstollen, jedoch von sehr hohem Erlebniswert (ich bin einziger Besucher an diesem frühen Morgen). Ist das Ausstiegsloch erreicht, ist man regelrecht dankbar für die ersten Sonnenstrahlen. Der Falzaregopass ist ein Knotenpunkt im weiten Dolomitenraum. Folglich steht dort nicht die sauberste Luft zum Atmen bereit. Für einen eventuellen Mittagsschlaf geht man dann besser etwas abseits zu einem Wiesenflecken. Zeit bis zur nächsten Übernachtungshütte ist wahrscheinlich ohnehin vorhanden. Der nördliche Teil der Dolomiten wird hier verlassen. Vor mir der Averau. Er wird südlich umwandert. Übernachten kann man dann im Rif. Cinque Torri, oder doch besser noch eine halbe Stunde höher, zur  Spitze des Nuvolau. Der prächtigen Aussicht wegen! Wer hier frühmorgens erwacht und zum Fenster raus schaut, hat seine Morgenandacht schon genossen. Eine Variante des Weges geht von der Hütte aus direkt über die Gusella zum Passo Giau. Sehr schön! Ich wandere jedoch weiter über den Normalweg. Über Blumenwiesen und durch lichtes Waldgelände, mit vielen Schmetterlingen, wandere ich sanft abwärts zur Giau-Paßstraße. Es ist Sonntagswetter. Jenseits der Paßstraße durch Wald aufwärts zum Lago Federa. Ein wahres Kleinod! Die Umgebung ist märchenhaft angehaucht. Schade nur, dass am Sonntag zu viele dem Zauber erliegen. Wer im Rif. Palmieri die Nacht verbringen möchte, der liegt schon richtig - falls nicht gerade Wochenende ist! Ansonsten: Zeit lassen und in den Abend hineinwandern. Im Süden sichtbar, der Becco di Mezzodi, der Uhrzeiger Cortinas. In der Forc. Col Duro bin ich dann schon wieder etwas atemlos. Nicht der Anstrengung wegen, sondern weil nun einer der schönsten Dolomitenberge sichtbar wird. Der Monte Pelmo! Fast zum Greifen nahe, zeigt er von dieser Stelle aus seine erhabene Gestalt. In der nun schon späten Abendsonne ein berauschend schönes Bild. Das Rif. Cita di Fiume ist die Nächtigungsstation für die folgende Nacht. Diese wird bald erreicht (Anm.: unter den Betten dürfte mal geputzt werden, doch wer schaut da schon hin…). Während der Abendstunden gebe ich mich dann der Überlegung hin, ob der Pelmo es nicht wert sei, zwei Tage Abenteuer-Ambiente einfließen zu lassen? 
Kurz entschlossen steige ich am folgenden Morgen ostwärts zum Rif. Venezia. Die Hütte habe ich fast ganz alleine für mich. Nachmittags liege ich lange in den Wiesen und betrachte den Aufstieg zum Gipfel. Der nächste Tag wird prächtig, und der Aufstieg zum Pelmo wird zum echten Erlebnis. Ein Dreitausender, der es allemal wert ist. Wenn man mal vom etwas ausgesetzten unteren Felsaufbau absieht, ist er gar nicht schwierig zu besteigen. Dieser 23. August bleibt in meiner Erinnerung haften. 

"Singing in the Rain", wird zur melodiösen Durchhalteparole des nächsten Tages: Regen, Regen! Und das nicht zu knapp. Den Weg hinüber zur Civetta - ansonsten ein prächtiges Schaubild - wird mir dadurch arg verleidet und vernebelt. Kein trockener Fetzen mehr am Leib, als ich recht ermüdet das Rif. Tissi erreiche. Dafür brennt ein angenehm wärmendes Kaminfeuer. Von diesem bewege ich mich an diesem Abend nicht mehr fort. Auch am nächsten Tag ist es noch teilweise recht trübe, wenn auch meist ohne Regen. Nebel wabert über und um die Spitzen des Civetta-Massivs. So gelange ich über das Rif. Vazzoler zu den Moiazza-Bergen. Es ist schon ein mächtig Stück Weg. Im Rif. Carestiato dampft es dann aus allen Ecken und Ritzen. Wegen der schlechten Witterung haben sich zusätzlich die Klettersteig-Aspiranten des Costantini-Klettersteiges hier versammelt. Das Herumlungern wird mit Anstieg des Promillepegels lauthals gefeiert, und die Hüttenruhe um 22.00 Uhr hat ihre liebe Mühe. 
Ein neuer Morgen bringt frische Luft und Lust. Hinweg über den Passo Duran; und dann hinein in die stille Einsamkeit der Pramper-Dolomiten. Arg verdreckt wate ich durch den Lehm des Hinweges zur Pramperet-Hütte. Die Hangböden sind sehr aufgeweicht vom vielen Regen des vergangenen Tages. Hier haben die Berge nun etwas an Höhe eingebüßt. Dafür spürt man bereits den Hauch des Südens. Und der zeigt sich nun am frühen Nachmittag mit unbändiger Kraft. Die Sonne leuchtet eine wundervolle Umgebung aus, die Lust zum Weitergehen ist vollends wieder da. Die kleine Pramperet-Hütte wirkt in ihrer Einfachheit ungemein romantisch (heute steht ein Neubau dort). Es sind dies die Hütten, wo man noch recht eng zusammen hockt und ein jeder viel zu erzählen weiß. Die Großmäuligkeit, wie sie an den populären Klettersteigrouten herrscht, fehlt hier. 
Das Wochenende ist da - wundervolles Bergwetter! Zunächst wundervoll, doch dann brennt die Sonne unbarmherzig heiß hernieder. Ein langer Weg führt in die Schiaragruppe. Eine nicht gerade kleine Wandergruppe strebt dieses Ziel an. Gegen Abend wird das Biv. Marmol in der Gipfelregion erreicht. Eine wundervolle Stille breitet sich über die nach Süden hin offene Felsarena. Der vergehende Abendnebel umsäuselt rosafarben die Felskulisse. Lange vorher gab es schon keine Wasserstelle mehr; und als ich nun auch noch ein Stück Schinken esse, nimmt die Qual zu, die man verspürt, wenn der letzte Rest Flüssigkeit vertrunken wurde. Alle finden nicht Platz für die Nacht; diese müssen es sich halt draußen bequem machen. (Anm.: meine allererste Biwak-Übernachtung, aber es blieb die einzige, in der ich nicht alleine übernachtete). 
Am Sonntagmorgen steht der einzige Klettersteig dieses Höhenwegs an, der Marmolsteig. In dieser Umgebung einfach ein herrliches Bonbon. Steil zieht der Steig abwärts durch die Marmol-Südwand. Meine ausgedörrte Kehle treibt mich zur äußersten Eile an. Geschafft! Nach der Zunahme von fast drei Litern Flüssigkeit in der Alpinihütte, steigt meine Stimmung wieder ungemein an. Nun endlich habe ich die Muße, diese ungemein schöne Lage auszukosten. Dafür nehme ich mir fast den ganzen Sonntag Zeit. 
Montagmorgen - Aufbruch zur letzten Etappe. Abstieg nach Belluno. Ein Hauch von Herbst liegt bereits in der Luft. Und ein Hauch Wehmut drückt auf meiner Brust. Ich nehme Abschied von einem wunderschönen Weg. Der Dolomitenhöhenweg 1 hat mich total verzaubert. 

 

 

Dolomiten Höhenweg Nr. 2
Brixen  -  Feltre

 

Westliche Dolomiten, 170 km lang, 14 Tage Gehzeit, nicht allzu schwierig. So die Fakten! 
Tatsächlich spielen diese Angaben für mich eine völlig untergeordnete Rolle. Dies ist mein allererster Weitwanderweg. So stehe ich dann im letzten Drittel des August an einem eher dunklen, dichtbewölkten, windigen und kühlen Morgen jenem Stein gegenüber, der auf der Plose den Anfang des Höhenwegs 2 markiert. Dieser verheißt mir das ultimative Erlebnis schlechthin. So stapfe ich dann mit forschem, innerlich eher verhaltenen Schrittes, dem Abenteuer meines Lebens entgegen. Nachmittags, als ich mit meinem voll bepackten Rucksack mühsam die Peitlerscharte geschafft habe und endlich in der Schlüterhütte sitze und Rückschau halte, bin ich schon recht zufrieden mit mir und stolz darauf, nun auch der "Kaste" der Bergsteiger zugehörig zu sein. Die Hütte füllt sich nach und nach mit den Leuten, die Ähnliches vorhaben oder auch nur Teiletappen des Weges erwandern möchten. Recht gesellig und lustig geht es zu - und der "Fisch" wird immer mächtiger, würde man unter Anglern sagen. Auf gut deutsch: es wird gelogen, dass sich die Hüttenbalken biegen. Da kann ich selber noch gar nichts beweisen - und das ist gut so, wie ich auf meinen späteren Touren für mich persönlich feststellen kann. 
Ein Morgen wie er schöner nicht sein kann. Vorbei an den Geislerspitzen geht es hinauf durch die Schründe zur Puezebene. Die alte Puezhütte ist ein wahres Kleinod. Ganz so, wie ich mir eine alte Berghütte vorstelle. Ich bewundere die junge Wirtin, die in all der Enge und Fülle eine quirlige Gelassenheit und aufmunternde Freundlichkeit ausstrahlt. Die Nacht dagegen wird saukalt. Dick steht das Eis auf den Pfützen. Nun, frieren gehört zum Handwerk. Nähe des Grödnerjochs wird es dann aber recht hektisch. Der Strom der Tagestouristen macht sich lauthals bemerkbar. Da schaue ich dann aber ganz "verächtlich" drüber hinweg - denen bin ich ja nun nicht mehr zugehörig. Ein wahrer Sturm umtost in der Nacht die Pisciaduhütte auf dem unteren Sellaplateau harrend. Der „flotte Wind“ unterstreicht die Ernsthaftigkeit des Hochgebirges. Nach und nach erheitert sich der folgende Tag. Ich überschreite die Sellahochebene, steige jenseits ab zum Pordoijoch, um dann in die Wiesen des Bindelweges hinein zu wandern. Mächtig und zum Greifen nahe: die Marmolada - eisige Königin. Die Sonne umschmeichelt die Haut und empfinde es als überaus erhaben, dieses Panorama als Begleiter zu haben. In der Marmoladahütte kann ich ein letztes Lager erwischen. Zu viele sind unterwegs - alle werden kein Ruhekissen mehr finden. 
Ein Teil der Weitwanderer steigt über die Marmoladascharte zum Weiterweg. Das ist mir alles noch zu unbekannt, noch nicht ganz geheuer, um dort meinen Fuß hinzusetzen. An der Südseite, unter der riesigen Wandflucht der Marmolada finde ich endlich die ersehnte Ruhe, die ich für mein Wohlbefinden brauche. Nur wenige Wanderer stören die Pastorale. Meere aus Blumen vor der mächtigen Südwand der Marmolada schaffen inneres Wohlbefinden. Dass die Hotelmanagerin am Pelegrinopass - ein wahres Biest - diese innere Harmonie jäh zerstört, werde ich ihr niemals verzeihen. Sie hasst geradezu Wanderer mit Rucksack. Zudem diese auch noch deutscher Natur sind und sie ohnehin im Begriff ist, dass Hotel wegen der endenden Saison zu schließen. 
Die Nacht geht vorüber. Und als ich dann die Palagruppe in Sichtweite habe, ist das Biest schon wieder der Vergangenheit anheim gefallen. Dieses Panorama, wenn man von Norden kommt, ist wohl einer der absoluten Glanzpunkte im Dolomitenraum. Cimone della Pala - ein Zauberberg. Absolut! Schatten senken sich bereits über die Mulazhütte. Inmitten einer grandiosen Felsarena fröstelt diese vor sich hin. Das Ehepaar aus Erlangen findet sich ein. Die ursprüngliche Höhenenwegstruppe ist nun -  einschließlich meiner Person - zu einem Trio geschrumpft. 
Der Sonntagmorgen bezaubert mit einem Blau, das sich verschwenderisch  über dieses Stück Dolomiten ausbreitet. Erst auf der ausgedehnten Fläche des Palaplateaus setzt Nebel ein. In der Rosettahütte wird es dann auch sogleich bedrohlich eng, weil zu viele ihre Wanderung bereits am frühen Nachmittag abbrechen. Der nächste Morgen strahlt ernste Erhabenheit aus. Dunkle Wolken schieben sich über die Felsen. Nebel wabbert durch die Schluchten und bildet mit dem teils gelblichen Fels der Pala großartige Gemälde der Bergnatur. Ich mag diese Stimmungen! Ein erster kleiner Klettersteig erfordert nun etwas Aufmerksamkeit. Jenseits der Ball-Scharte dann die Pradidalhütte. Sie liegt in bevorzugter Lage; ein Gipfel ist schöner als der andere. Zur Trevisohütte ist es noch ein gutes Stück Wegs. Irgendwie schaffe ich es dann doch noch, über die Hüttenschwelle zu stolpern. Geschafft - und das in mehrdeutigem Sinne. 

(Die folgenden Tage werden in meiner Schilderung "Das Leuchten am Pass" beschrieben und klammere sie deshalb hier aus.) 

Der letzte Teil des Weges findet dann erst Jahre später statt. Vom Passo Cereda ausgehend durch die Feltriner Dolomiten bis nach Feltre. 
Jahre hindurch hatte ich keine großartigen Ambitionen, unbedingt dieses fehlende Teilstück gehen zu müssen, weil ich mir nicht zuviel versprach von jenem Stück Dolomiten, das in den Printmedien kaum erwähnt wird. Nun - ich war positiv enttäuscht, und das in jeglicher Hinsicht. Es ist sogar großartig! 
Das Wetter ist ausgesprochen gehfreudig. In der Forcella Comedon pocht das Herz bereits schneller. Nicht nur des Anstieges, sondern vor allen Dingen der schönen Aussicht wegen. Das Biv. Walter Bodo, inmitten eines großen Kares gelegen, ist ein wunderschöner und lieblicher Rastplatz. Natur pur! Der letzte Höhepunkt des Tages bietet die anheimelnde Umgebung des Rif. Boz. Am brennenden Kamin klingt der Tag wohltuend aus. Das junge englische Pärchen und ein ebenso junger Holländer gestalten den Abend bei ein paar Gläschen Wein international. Wir sind die einzigen, die zur Zeit den Höhenweg 2 hier auf diesem letzten Teilstück begehen. 
Am nächsten Morgen, nach kurzer Wegesstrecke, bietet sich ein völlig anderes Landschaftsbild. Es sind nun keine hohen Berge, keine tiefen Täler mehr. Die Natur gibt sich jetzt sehr karg; jedoch keineswegs langweilig. Ein Weg, voller herber Schönheit, mit seltsam ausgeprägten Gesteinsformation. Die letzte Schutzhütte am Weg ist dann das Rif. Dal Piaz. Diese nebelt sich am Abend ein, so als wollte sie sich abschotten gegen das relativ flache Land, das sich südwärts auftut. 
Der Abschied von meinen Weggenossen ist, wie so oft in den Bergen nach flüchtigen Begegnungen - also recht kurz. Dass ich sie am Nachmittag in Feltre doch noch mal wiedersehe, ist dann dem Nebel zu verdanken. Ich hatte erwogen, mich westwärts aus den sanften Hügeln zurückzuziehen, um so das Städtchen Feltre ausklammern zu können. Gegen Mittag stecke ich jedoch hoffnungslos in der dichten Nebelbrühe fest. Froh darüber, überhaupt eine Spur zu finden, gelange ich so über Umwege doch noch nach Feltre. 
Wenn auch der Höhenweg 2 "nur" in zwei Teilstrecken geschafft wurde, und auch vielleicht nicht der Abenteuerlichste war, im Erlebniswert war er ein ganz, ganz großer. 

 

 

 

Dolomitenhöhenweg Nr. 3 
Toblach  -  Longarone

 

Wesentlich kürzer als der 2er, "nur" 120 km, dafür aber weitaus abenteuerlicher und beschwerlicher - incl. Klettersteig. 
Ein sehr schöner Sonntagmorgen überstrahlt die Dolomiten. Von Toblach ausgehend steige ich stetig Richtung Pätzwiese an. Zunächst alles nicht so schwierig. Doch da treten schon bald in erheblichem Maße Muskelkrämpfe auf. Das Erreichen der Dürrensteinhütte wird so zur tagesfüllenden Tortur. Und es wird spät! Zwei Ehepaare sind ebenfalls auf dem 3er unterwegs. Nicht ganz zufällig das Erlanger Paar vom 2er. Dazu dann noch ein Schwaben-Duo. Immer schön, wenn man sich am Abend bei einem Getränk über die Geschehnisse des Tages auslassen kann. 
Die Strapazen vom ersten Tag sind schon wieder weit weg geschoben. Pure Natur beim Abstieg Richtung Höhlensteintal. Gämsen zeigen sich hier und da - sonst Stille. Jenseits des Dürrensees dann aber steil hoch zur Ebene des Monte Piano. Das sind satte 1000 Meter. Aus dem Osten lugen die 3 Zinnen herüber. Mit dem Auto wäre es leicht hier herob zu kommen. Von der Südseite her gelingt das über eine schmale Fahrstraße. Auf dieser gelange ich dann am nächsten Morgen wieder talwärts. Und wieder wird die Straße des Höhlensteintales gequert (etwas wirr angelegt, dieser Höhenweg). Nun führt ein schöner Weg durch das Val Popena in die Cristallogruppe hinein. Das Wetter zeigt sich mäßig erheitert. Anstieg zum Tre Crozzi Paß. Von dort dann hinein in den riesigen Sorapiskessel. Die steil aufragenden und dunkel wirkenden Wände dieses Dreitausender machen schon mächtig Eindruck. Und sie strahlen eisige Kühle aus. Dies tut auch die Vandellihütte. Mehrmals war ich mittlerweile zu Besuch hier, und ein jedes Mal habe ich gefroren. 
Unaufhaltsam strebe ich meinem ersten Klettersteigabenteuer entgegen. Die Sonne meint es nun wieder recht gut und hellt die Wände der Croda Marcora an der Westseite des Sorapis aus. Und ich schaffe den Berti-Klettersteig sogar ohne besondere Schwierigkeiten. Noch nicht mal den Sicherheitsgurt ausgepackt, denn für meine stets einsatzbereite Filmkamera brauche ich beide Hände. Im Nachhinein sage ich mir zwar immer wieder, was wäre wenn…? Doch darüber habe ich bei der Durchsteigung nicht groß nachgedacht. An der Forc. Grande vereinigen sich 3 Höhenwege. Gemeinsam leiten sie zur vielleicht schönsten Hütte der Dolomiten, dem Rif. San Marco. Diese harrt inmitten eines wunderschönen romantischen Fleckens. Zu der Zeit wird sie von einem einfühlsamen, stillen Paar bewirtschaft. Ich fühle mich wohl und geborgen hier. 800 Meter tiefer erstreckt sich das Boitetal, mit dem quirligen Ort, San Vito. Die üppig gefüllten Läden verlocken dazu, sich den Magen mit allerlei genussreichen Sachen anzufüllen. Das rächt sich dann aber beim 1000 Meter Anstieg zur Venezziahütte, am Fuße des Monte Pelmo. Der Magen rebelliert. Und das tut er auch noch am nächsten Morgen, als es durch die verzauberte Wildnis Richtung Passo Cibiana geht. Es nebelt zwischen den Felsen, und der Nebel drückt sich auch durch die wilde Waldlandschaft. Der Pelmo versteckt sich weiterhin. Am Abend setzt starker, gewittriger Regen ein. Wir Fünfe treffen wie immer abends  zusammen. Die Wirtin hat uns gemeinsam in ein Lager gesteckt, wo wir die Nacht über dann mehrmals Lage und Platz wechseln; es regnet eben überall durch. Auch diese Nacht wird überstanden, der Regen bleibt. Und die nächsten Tage soll, laut Wetterbericht, in Punkto Nässe keine Abwechslung folgen. Gemeinsam steigen wir die Passstrasse runter ins Boitetal. Per Bus zurück zum Ausgangspunkt, wo ich dann der Dinge harre. Das Harren dauert 3 Tage, ehe ich dann per Auto zum Passo Cibiana, bei nun schönstem Wetter, zurückkehre. Ich setze den Höhenweg fort. Nach 2 Stunden sitze ich bereits wieder im Wagen. Es gießt in Strömen - Abbruch. Endgültig! 
Jahre später bin ich wieder in der Bosconerogruppe. Diesmal bei strahlendem Himmelsblau. Die Berge des "Schwarzen Waldes" sind von einer eigenwilligen Schönheit. Wie schon in den Feltriner Dolomiten habe ich auch hier nichts zu bereuen.

Der 3er ist nicht vergleichbar mit seinen beiden Vorgängern. Weniger märchenhaft, eher herb, abenteuerlicher und geheimnisvoller!

 

 

Dolomitenhöhenweg Nr. 4
 Innichen  -  Pieve di Cadore

 

Zu den längsten Wegen zählt er nicht, der 4er, " nur" 80 km. Die können es aber in sich haben. Für pure Anfänger deshalb auch nicht der Einstandsweg. 
Fährt man von Innichen ins Sextener Tal hinein, biegt schon bald eine Fahrstraße ins Innerfeldtal ab, Richtung Dreischusterhütte. Am Wochenende sollte der Tourstart aber möglichst nicht begonnen werden. Dann kann der Trubel in der ansonsten recht ordentlichen Hütte schon ganz unordentlich groß werden. 
Ich beginne am Dienstag. Es ist schon Nachmittag und drückend warm. Bin soeben erst von meiner langen Anfahrt hierher eingetroffen. Ich übernachte in der Hütte und steige dann nächsten morgens das Wildgrabenjoch an. Der Ausblick könnte nicht besser sein, und der Anblick auf die Drei Zinnen kann fast nicht größer sein. Doch die "Drei" sind soeben im Begriff, sich hinter Wolken zu verstecken. Also weiter zur namensgebenden Hütte. Dass ich mich in einem der bestbesuchtesten Gebiete des Alpenraums befinde, ist unschwer zu erkennen. Ist es das, was ich auf einem Weitwanderweg zu finden hoffe? Solche Unruhe? Ganz sicher nein! Aber eingekehrt sein muss man wohl doch einmal; etwa so, wie man auch das Hofbräuhaus in München besucht. Der Eintritt erweist sich aber als schwierig. "Der Rucksack, der bleibt aber draußen", weist die resolute Wirtin mich lautstark an. Mein Aufenthalt im „gastlichen“ Haus ist dann auch entsprechend kurz. Die Wege erweisen sich manchmal als recht schmal, wenn den Breitseiten der Tagesgäste ausgewichen werden muss, die nun stetig vom Parkplatz Auronzohütte heranströmen. Die Auronzohütte ist dann für mich auch Nächtigungsstation. Ich entschuldige mich für den Ausdruck Hütte, aber so heißt sie nun mal. Döner gab es noch nicht... dafür hat man aber die Freiheit, sich alles andere vorstellen zu dürfen. 
Der Morgen sieht recht düster aus. Regen setzt bald ein. Also erst mal abwarten, bevor ich den Fuß Richtung Cadinigruppe setze. Schließlich starte ich mit einem jungen Mann aus Duisburg und einem Berliner Paar Richtung Zsigmondyhütte. Also die entgegengesetzte Richtung! Dort soll bis morgen abgewartet werden. Entweder dann Abstieg ins nahe Sexten - oder bei Wetterbesserung zurück zur Auronzohütte. Tatsächlich hört der Regen bei Tagesbeginn auf. Neue Hoffnung! Wieder gehen wir zurück zur Auronzohütte, um dort erneut  zu übernachten. So ein Pesch aber auch - es wird ein Touristenbus erwartet. Alpenvereinsausweis hin, Alpenvereinsausweis her - elender Rucksackträger, Hergelaufener, was bilde er sich ein. Das wurde so direkt nicht gesagt, aber in den Augen des Wirtes war es deutlich zu lesen. In der nahen Lavaredohütte ist dann aber doch noch ein Plätzchen frei. 
Frost gibt es in der Nacht, und die Cadini sieht nicht gerade einladend aus. Doch wofür sind Höhenwege da? Richtig, zum Weitwandern. Bald fällt leichter Schneefall. Es ist dies ein eigenartiges Gebirge, die Cadini. Aber kein bisschen langweilig. Im Gegenteil, ausgesprochen interessante Felsformationen bieten dem Auge mehr als genügend Abwechslung. In der Fonda Savio Hütte gibt es den bestschmeckensten Apfelstrudel. Ehrlich! Die Sonne bricht nun erstmals seit Tagen wieder durch. Deshalb wähle ich auch nicht den Normalweg, sondern steige durch die For. del Nevaio. Kaum habe ich die Einschartung gequert, ziehen dunkle Gewitterwolken auf. Ehe ich die Carpihütte erreicht habe, liegen gut und gerne 20 cm Neuschnee - und ich schaue wie der Weihnachtsmann in Person aus. In der Hütte mache ich dann sogleich einen Wein-Schnellkurs. Und zwar werde ich Zeuge, wie Eiswein entsteht. Ich beobachte im angrenzenden Schuppen den Hüttenjunior dabei, wie er den frischen Neuschnee in die Weinflaschen stopft. Ein neues Wunder von Kana etwa? Am frühen Abend bricht dann urplötzlich die Sonne durch die dunklen Schneewolken. Ich erlebe eine Schau, wie ich sie kaum schöner in den Dolomiten sah. Die warmen, rötlichen Strahlen der Abendsonne verzaubern alles. Der weite Kessel des Sorapis gerade gegenüber wirkt nun wie ein riesiges Märchenschloss aus uralten Sagenzeiten. 
Nach einer kalten Nacht taut die weiße Pracht dann am Morgen wieder rasch weg. Die Vandellihütte ist das Tagesziel. Also hinab ins grüne Val d'Ansiei. Die Hebstzeitlosen blühen bereits in verschwenderischer Pracht auf den Wiesen. Ein Stück Straßenwanderung... dann der Anstieg zum Sorapiskessel. Natürlich ist die Hütte wieder saukalt, und die Nacht auch. Der Sonntagmorgen meint es dann aber wieder recht gut. Ist auch besser so! Die dunklen Felsfluchten der Sorapiswände wirken nicht eben einladend. Doch wenn ich den Vandelli-Klettersteig machen will, muss ich da schon durch. Und er ist ein wahres Erlebnis, dieser Steig. Manchmal wirkt die Ausgesetztheit schon atemraubend. Doch oben angekommen bin ich schon recht zufrieden mit der Welt. Zum Biv. Comici abwärts ist es nicht allzu weit. Die grüne Lage ist ausgesprochen freundlich und lädt zum Verweilen ein. Oberhalb, im Schotter, tummelt sich eine mächtige Anzahl Gämsen. Doch noch liegt ein anstrengendes Pensum vor mir, der Minazio-Klettersteig. Sehr hoch und luftig verläuft der Steig über die Bänder der Sorapis-Südflanke. Meist nimmt aber der starke Latschenbewuchs die Angst vor der reichlich vorhandenen „dünnen Luft“. Die Anstrengung hält sich aber in Grenzen. Gegenüber streift das Auge immer wieder die einsame Marmarolegruppe. Irgendwann wird diese mein Ziel sein, auf dem Höhenweg 5. Schon neigt sich der Tag, als ich am Zusammenfluss dreier Höhenwege stehe, der Forc. Grande. Und wieder gelange ich zur vielleicht schönsten Hütte der Dolomiten. San Marco! Zufrieden mit der heutigen Leistung wende ich mich anderen schönen Dingen zu - Essen und Trinken. 
Monday, Monday, du meinst es gar nicht gut. Und auch an den folgenden Tage werden die dunklen Regenwolken nicht verschwinden. Der Antelao, gerade gegenüber, ist vereist. Abbruch! Zurück nach Sexten. Die Heimat ruft. 


Der 4er ist ein recht abenteuerlicher, abwechslungsreicher, interessanter und schöner Weg; leider wurde das Erlebnis durch das oftmals unschöne und kühle Wetter getrübt. Die beiden letzten Etappen des Höhenweges machte ich in einem anderen Jahr, und zwar im Zuge der Antelao-Besteigung (beschrieben in meinen Erlebnisberichten). 

 

 

 

 

Dolomitenhöhenweg Nr. 5 
Sexten  -  Pieve di Cadore

 

Der 5er ist der östlichste Höhenweg, der durch die eigentlichen Dolomiten führt. Von der Länge her ist er nicht der Weiteste. Vom Charakter her gesehen der abenteuerlichste - und auch der Größte. 
Der Sommer ist noch recht jung, als ich Sexten ansteuere. Den Höhenweg 5 wollte ich auf keinen Fall auslassen, wird er doch als abenteuerlichster beschrieben. So steige ich dann eines Sommertages Richtung Zsigmondyhütte bergan. Ein reges Touristenvölkchen ist bereits unterwegs. Gottlob nimmt der größere Teil die Abzweigung zur Dreizinnenhütte. Der Tag ist noch lang, also ausreichend Zeit, sich etwas Bergbräune zuzulegen. Das eigentliche Etappenziel des Höhenweges wäre nur etwa eine Stunde von der Zsigmondyhütte entfernt - die Carduccihütte. Doch diese Strecke ist mir zu simpel. Dem abenteuerlichen Charakter des 5er ist sie mir nicht angemessen genug. Also lege ich etwas an Erlebnis drauf, indem ich nächsten Tages zum Alpinisteig abbbiege. Viel Schnee hat die Nordseite noch genug, doch es macht Spaß. Ein dunkler Himmel verleiht dem Steig seinen würdigen Charakter. An der Sentinellascharte steige ich südwärts ab, wo ich die Bertihütte bald erreiche. Ein schmuckloser Bau, in einer etwas ernsten Umgebung. Der Papst war auch schon hier, wie ein Foto zeigt. 
Weitere zwei Klettersteige folgen am nächsten Morgen. Zunächst über eine abdrängende Leiter zur Ferrata Roghel. Nicht sehr lang, aber trotzdem von hochalpinem Charakter. Das dunkle Wetter bietet den entsprechenden Kontrast. Es folgt der Steig der Cenga Gabriella. Ein schauriger, heftig pustender Wind hat derweil eingesetzt. An dünnen, verrostenden Stahlseilchen wird der Mut immer wieder gefordert. Das Band wirkt endlos lang, auch wenn die in der Ferne leuchtende Carduccihütte schon recht nah erscheint. Zum Ende hin durch eine lange Schneerinne abwärts, um dann recht eben weiter Richtung Unterkunft. Diese erreiche ich durchgefroren in einem ausgemachten Gewitter, das mit aller Vehemenz über mich hereingebrochen ist. Der Hüttenwirt (zur beschriebenen Zeit ein Südtiroler) kümmert sich in einer schon selten gewordenen Liebeswürdigkeit um seine Gäste. 
Der Tag verspricht schön zu werden... und das hält er auch. Und schön warm wird er obendrein. Hinab in das Val d'Ansiei  sind es satte 1400 Meter. Die Knie haben eine wahre „Freude“ an solchen Abstiegen. Jenseits  hinein in das Seitental Val da Rin. ImTalschluß steht die Primulahütte. Leider ohne Nächtigungsmöglichkeit. Mein Höhenwegsbüchlein macht für den Weiterweg ein paar irreführende Angaben, und schon befinde ich mich im Anstieg des Val Baion. Den Irrtum bemerke ich aber erst geraume Zeit später und nach einer ordentlichen Portion Schweißbad. Zwei Stunden später dann auf richtigen Pfad aufwärts zur Forc. Paradiso - grausame 1000 Meter hoch. Die Abendsonne sendet ihre letzten Strahlen über eine bezaubernde Landschaft, als ich die letzten Meter zur Scharte förmlich entgegenfalle. So restlos fertig war ich vielleicht noch niemals im Leben vorher. Irgendwie schaffe ich es dann doch noch, fast schon in der Dunkelheit, über die Schwelle des Rif. Ciaredo zu stolpern. 
Der bezaubernde Sonntagmorgen ist schon etwas fortgeschritten, als ich zum Frühstück erscheine. Alle Gäste sind schon entschwunden. Das 2. Frühstück nehme ich dann schon zwei Stunden weiter im Rif. Baion ein, auf einer sonnigen Aussichtsterasse, inmitten von Almwiesen, an der Südseite der Marmarole. Nach wenigen Stunden weiterer Wanderung durch eine ausgesprochen lieblichen Berglandschaft, bin ich an meinem Tagesziel angelangt, das Rif. Chiggiato. 
Nun wird es spannend. Aufwärts steigend geht es hinein in die Einsamkeit der Marmarole. Ein schaurig scharfer Wind empfängt mich ein paar Stunden später in der Forc. Jau dela Tana. Die Wettersituation schaut hier an der Nordseite etwas ernster aus - passt aber durchaus zum Charakter der Marmarole. Jenseits über große plattige Felsen abwärts, bis zum Biv. Tiziano. Hier erwarten mich unerwartet allerlei Köstlichkeiten. Einige wohl recht gut ausgestattete italienische Wanderer wollen soeben talwärts; nun erleichtern sie ihre Rucksäcke für mich. Und diese enthalten allerlei Köstlichkeiten. Die Marmarole wird nun sehr, sehr einsam. Wiederum geht es aufwärts, fast weglos, bis endlich ein steiler Abstieg endlich zum Biv. Mussati hinleitet. Kein Mensch weit und breit. Zur Wasserstelle nun ein langes Stück Wegs abwärts - um dann  viel länger wieder anzusteigen zum Biv. Der lange Tag macht sich bemerkbar. Ich genieße den Abend auf dieser wundervollen Aussichtsplattform. Vor mir, durchs Tal getrennt, das wilde Zackengewirr der Cadinigruppe; und darüber erheben sich noch die Drei Zinnen. 
Der Morgen ist schön. Doch nun ist etwas eingetreten, was mich die letzten Tage schon sehr gequält hat. Meine Füße sind eine einzig große Wunde. Kunststoffschuhe (sie waren derzeit Mode), lassen die Fußfeuchtigkeit nicht nach draußen. Und irgendwann rächt sich das. Kurz - ich möchte in dieser Verfassung nichts riskieren. Alleine in der weiten Einsamkeit der Marmarole - zu riskant. Abbruch! Nun folgt der direkte Abstieg ins Val d'Ansiei - und der ist das wahre Grauen. 1000 Meter sehr steil runter über einen überaus glitschigen Waldboden. Das war's dann vorerst auf dem 5er! 


Einige Jahre weiter. Die abgebrochene Tour möchte ich endlich fortsetzen. Wieder steige ich denselben Weg an. Rauf geht es wesentlich besser. Die steilsten Stellen wurden mittlerweile per Stahlseil entschärft. Wieder eine stille Nacht im Biv. Mussati. Dann bin ich bereit, den einsamsten Teil der Marmarole zu queren. Und  wiederum ist kein Mensch weit und breit zu sehen. Die Markierungen sind überaus spärlich, Spürsinn ist gefragt. An einigen Steilstellen ist ein Sicherheitsgurt durchaus empfehlenswert. Dieses Teilstück bietet das Bergwandern in seiner ursprünglichsten Form. Wegen des sehr frühen Aufbrechens bin ich bereits gegen Mittag in der Nähe des Biv. Voltolina. Das ausgesetzte Band des Cengia del Doge nehme ich noch mit, um dann durch das schöne Hochtal des Val di San Vito abzusteigen (Den Weiterweg zur San Marco Hütte wollte ich nicht schon wieder machen). 

Und noch einige einige Jahre weiter, wiederhole ich den gesamten Weg durch die Hochmarmarole nochmals. Wie erwartet, menschenleer. Dafür wurden zwischenzeitlich Markierungen in jeder Menge gepinselt. Das Dritte Mal nächtige ich nun im Biv. Mussati. Und wieder hat mir diese ursprüngliche Wanderung sehr, sehr gefallen. 

Die Restetappe des Höhenwegs 4/5 hatte ich aber bereits viel früher unternommen, im Zuge meiner Antelao Besteigung. Dabei stieg ich nach der Übernachtung in der Galassihütte zum Antelao-Gletscher an. Der Weg dorthin hat klettersteigartigen Charakter. Genächtigt habe ich derzeit in der Antelaohütte. Diese schöne Unterkunft bietet einen wundervollen Ausblick auf die Südseite der Marmarole. 

Im Rückblick: Der Dolomitenhöhenweg 5 ist in seiner Gänze der absolut abenteuerlichste und ursprünglichste aller Steige. Dies aber nur Dank der Marmarole. Immer wieder habe ich gehört, dass Leute, die den 5er machten, die Marmarole ausklammerten. Der Höhenweg ist dann zwar noch immer sehr schön, hat aber mit dem tatsächlichen Höhenweg 5 nichts mehr gemein. 


Gesamturteil: Die Höhenwege der Dolomiten gehören vielleicht zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens. Trotz manch' einsamer Stunden und Tage, vieler Schweißtropfen und auch mancher Flüche, möchte ich (fast) keinen Tag missen. Eine Bürde war zugegebenermaßen der schwere Rucksack mit zusätzlicher Filmausrüstung. Doch würde ich die Dolomiten noch Mal für mich neu entdecken, würde ich die Höhenwege wieder begehen wollen. 

 

 

Die Klettersteige der Dolomiten

 

Wer an die Dolomiten denkt, denkt auch an Klettersteige. Wer erstmals unter den Wänden dieser Berge steht, dem erscheint es kaum glaubhaft, dass der "Normalwanderer" diese durchsteigen kann. Doch es geht! Kilometer von Stahlseilen, Klammern und Leitern haben dieses besondere Erlebnis wahr werden lassen. Über den Sinn dieser Anlagen möchte ich nicht streiten, kontroverse Meinungen dazu gibt es zuhauf. Natürlich gibt es schlimme Auswüchse. Und wer sich an bestimmten Tagen des Sommers zu bestimmten Zeiten in bestimmten Anlagen befindet, ist schon recht zu bedauern. Das irgendwann der Kollaps kommt, scheint fast unabänderlich. Von allen Dingen, die gemacht werden, werden stets zu viele gemacht. Trifft man jetzt bereits dort Fahrradfahrer an, wo sich früher kaum Alpinisten hinwagten. Dabei sollten die Berge eigentlich mit dem besten Fortbewegungswerkzeug das der Mensch besitzt, den Füßen, diese steinerne Welt "erobern". 
Sei es drum, Klettersteige haben mir ein Bergvergnügen und besondere Erlebnisse bereitet, welches ich ohne diese Steig- bzw. Sicherungshilfen nicht hätte erleben können. Schon deshalb, weil ich meistens alleine unterwegs war. 
Beschreiben möchte ich einen Teil dieser Steige - nicht alle. Alle habe ich sie auch nicht gemacht, denn irgendwann lässt auch dieser Reiz mal nach. Wie immer möchte ich auch diese Erlebnisse aus subjektiver Sicht beschreiben. Wegbeschreibungen gibt es ja in Masse in den verschiedensten Publikationen. Klettersteige sind für mich einfach dazu da, den Wert einer Wanderung zu steigern. Sportliche Aspekte haben mich bei meinen Touren nie interessiert, sondern rein der sinnliche Erlebniswert stand und steht im Vordergrund. 

 

 

Die Sorapissteige

Da stehe ich nun am Anfang jener mächtigen Wand, die der Sorapis über dem Boitetal aufbaut. Die Croda Marcora! Der Höhenweg 3 führt geradezu hier her. Der Einstand meiner Klettersteigära beginnt nun hier. Bertisteig wird er genannt, und die Einstufung hat das Prädikat "schwierig". Viel hatte ich gelesen und mich darauf vorbereitet. Die Filmkamera kommt nicht in den Rucksack, und der Brustgurt kommt nicht heraus. Ich fühlte mich so freier, um mein Abenteuer würdig zu filmen. Vor mir durchsteigt bereits eine kleine Gruppe die Wand, und hinter mir tauchten neue Wanderer auf. Also kein Grund zu verzagen. Ich konzentrierte mich ganz auf den Weg; was nicht heißt, dass ich um das bewusste Schlucken herumkomme. Die Sonne meint es recht ordentlich und die Wand wirkt demnach nicht so düster. Im letzten Viertel dann jene trichterförmige Schlucht, wo mit grausigem Getöse die Brocken vom hohen Fels in die Tiefe stürzen. Ein Felsaufschwung noch und eine letztes luftiges Ausstiegsband. Feuertaufe bestanden! 
Zwei Jahre weiter. Der Höhenweg 4 führt mich wiederum zur Vandellihütte. Düster - wie meist - steht die trostlos wirkende Nordwand wie ein Bollwerk dort. Zum Glück beginnt der Sonntagmorgen recht sonnig. Der Vandellisteig wirkt ganz anders als der Bertisteig. Ernster! Wieder bleibt der Brustgurt im Rucksack. Diesmal jedoch aus solidarischen Gründen. Ein junger Mann, den ich auf dem Höhenweg kennenlernte, will nur weitergehen, wenn er mich begleiten darf. Eine Sicherung hatte er nicht mit. Vielleicht etwas zu naiv von ihm (von mir wohl auch). Im Ganzen gesehen ist die Wand aber gut begehbar, bis zu jener Stelle, wo die Luft ganz, ganz dünn wird. Ein kleiner Vorsprung lässt die Füße mal ordentlich in die Tiefe schauen. Allerdings beschützt von einem sehr vertrauenswürdigen Stahlseil. Das war es dann auch schon. Auf einem sehr schönen Aussichtsbalkon dürfen die Beine dann über den Sorapissee schweben. Nach einer schönen Strecke, auf der man die Marmarole stets vor Augen hat, folgt der Minaziosteig. Schmal und luftig, im steten Auf und Ab.  Der Steig führt durch die sehr steile Sorapissüdwand. Allerdings wird man vor allzu nervigen Tiefblicken durch den recht dichten Latschenbewuchs bewahrt. Er ist dies der leichteste der drei Sorapissteige. Ein letztes marodes Stahlseil zeigt dann das Ende des Klettersteiges an. 
Anmerkung: Der Sorapis bietet mit seinen Steiganlagen eine sehr schöne und abwechslungsreiche Runde. Im gesamten ist die Anlage zwar als schwierig einstufbar, doch wirkliche Schwierigkeiten sind eher selten.

 

 

Die Schiara-Steige.

Die Gruppe der Schiaraberge sehe ich immer noch als ein Zuckerstück der Dolomiten. Wenn man auf den Wiesen vor der Alpinihütte steht, jauchzt das Herz in stiller Freude. Betreten habe ich diesen Gebirgsstock jedoch quasi durch die Hintertür. Es war der Auftakt zum Finale auf dem Höhenweg 1. Müde und ermattet nach einem sehr heißen und langen Tag, stehe ich an einem wunderschönen Samstagabend vor dem Biwak am oberen Ende des Marmol-Steiges. Alleine bin ich nicht - der Höhenweg schleppt so einiges an (Das erste und einzige Mal, wo ich nicht alleine in einem Biwak schlief). Das Nebelspiel in der untergehenden Sonne lässt die Sinne aber noch mal beglückend aufleben. In der Kühle des frühen Sonntags steige ich abwärts. Die Stahlseilchen sehen nicht immer vertrauenerweckend aus, geben aber auch kein Anlass zu größerer Sorge. Noch liegt das riesige Schiara-Rund im Schatten. Dafür wird das rote Dach der Alpinihütte bereits öfters sichtbar. Und endlich hat auch die Sonne diesen wunderbaren Raum erobert. Eilig habe ich es zwar nicht direkt, doch nun treibt mich der Durst (an Wasser mangelt es in der Schiara sehr) doch zu einem erhöhtem Tempo. Zum Ende hin wird der Ausstieg dann noch recht bodenlos. Über ein paar Leiten wird der "feste" Boden endlich erreicht.

Einige Jahre weiter: Die Schiara hat zumindest soviel Eindruck hinterlassen, dass es mich noch einmal zu ihr hinzieht. Diesmal nähere ich mich der Gruppe auf dem vielleicht schönsten und ursprünglichsten Weg. Dieser führt von La Stanga im Cordevoletal ausgehend hinauf durch das wildromantische Val de Piero. Es ist dies ein würdiger Beginn meiner dreitägige Klettersteigrunde. 
Der Zacchisteig ist dann der Auftakt für die Schiararunde. Ein warmer, sonniger Julimorgen lädt zum Einstieg. Erste Schweißtropfen verlieren sich im Steilfels. So geht es höher, von Terrasse zu Terrasse, immer luftig, immer aussichtsreich. Die Alpinihütte bleibt meist sichtbar und lässt so kein Gefühl von Einsamkeit aufkommen. Trotz schönstem Wetter und bereits begonnenem Hochsommer ist der Besucherandrang recht dürftig. Wie schön! Am Biv. Bernardino ist des Steiges erster Teil dann geschafft. Ein wenig Verschnaufen, ehe nun Teil 2 folgt. 200 Höhenmeter sind es bis zur Spitze des Monte Schiara. Da ich den Zacchisteig gut überwunden habe, bedeutet der Bertisteig kein ernsthaftes Hindernis mehr. Die Aussicht vom höchsten Punkt ist der Klasse dieser Klettersteige durchaus angemessen. Doch schon schiebt sich von der Adria her die bekannte Dunstwalze behäbig aber stetig der Schiara-Arena entgegen. Hier findet sie ihren Ankerpunkt - wo sie dann auch gerne ausharrt. Doch soweit ist es noch nicht, die Aussicht bleibt vorerst prächtig. Über den ostseitigen schlanken Grat nun abwärts Richtung Biv. Marmol. Es ist zwar noch nicht ganz Mittag, doch nun schiebt die Wolkenmasse zusehends die Sonne weg. Nach etwas nostalgischer Rückschau im Biwak mache ich mich dann hurtig auf die Beine. Nun abwärts über den Marmolsteig. Eine etwas größere französische Gruppe erscheint zwischen den Felsen. Sie sind seit dem frühen Morgen im Aufstieg. des Marmolsteiges. Ein jeder der Gruppe ist zusätzlich mit den anderen per Seil verbunden. So behindern sie sich gegenseitig im Vorankommen; und ich befürchte, dass es ein langer Tag für sie werden wird. Ohne weitere Schwierigkeiten habe ich den Ausstieg bald erreicht. Das Wetter hat nun endgültig dicht gemacht. In der Hütte ist der Regen recht gut auszuhalten und die Gedanken sind schon auf den vierten Schiarasteig gerichtet. 
Der nächste Morgen ist ebenso strahlend wie der vorhergehende. Offiziell gilt der Spertisteig derzeit als nicht begehbar - so mahnt ein Schild. Ich wage es trotzdem. Nun bin ich schon einmal hier, dann möchte ich auch alle Wege machen. Basta! (Der Pelf-Steig ist zu dieser Zeit noch nicht erbaut). Dieser Klettersteig durch die Pale del Balkon liegt etwas abseits der eigentlichen Schiaragruppe. Deshalb wird er wohl auch weniger begangen. Das Warnschild besteht nicht ganz zu unrecht, stelle ich fest: Fehlende oder beschädigte Sicherungen sind nicht eben eine Bereicherung. Deshalb heißt es eben doppelt vorsichtig durch das wildzerklüftete Kleinmassiv zu steigen. Langweilig wird es nicht. Ausgesetzte Bänder, dunkle Schluchten und Altschneefelder im rutschigen Schotter signalisieren: Obacht geben! Im ganzen wirkt der Steig aber weniger schwierig, als der Zacchi-Steig. Ausstiegspunkt ist das Biv. Bernardino unter der markanten Gusella del Vescova. Es ist vollbracht, kann ich nun sagen. Die Schiara hat Freude bereitet. Irgendwann werde ich sie wohl nochmals besuchen. Der Abstieg folgt nun durch die mit eigenartigen Felsformationen durchsetzte, aber auch blumenreiche, nordseitige Abflachung Richtung Rif. Bianchet.

Anmerkung: Der Zacchisteig ist recht schwierig, die anderen Steige eher mittelschwierig - bei optimalen Verhältnissen. Lohnend sind sie alle. Der Schönheit wegen. 

 

Marmoladagebiet

Die Königin der Dolomiten zu besteigen ist durchaus nichts Unehrenhaftes. Da die Marmolada nun mal die höchste Erhebung der Dolomiten aufweist, steht sie zwangsläufig auf dem Programm. Am Fedaiasee steige ich in den Gondellift, der mich schon ein beträchtliches Stück in die Höhe führt, bis zum Rand des Gletschers. Die einfachste Lösung wäre nun, über den Gletscher anzusteigen. Doch diese Route habe ich für den Abstieg vorgesehen. Also wieder ein Stück absteigen, um dann im weiten Bogen die Marmoladascharte anzugehen. Es liegt noch eine Menge Schnee auf dem leicht abschüssigen Anstiegsfeld. Ich schnalle die Steigeisen unter. Sie sind dann heute noch öfters eine gute Unterstützung. Das Wetter ist prima. Auf dem Westgrat – also dem Klettersteig - hat es während der Nacht knackig gefroren, und der nächtliche Gewitterregen hat für unangenehme Glätte gesorgt. An einigen Stellen geht es nur mit Pickel weiter. Vier Tschechen haben das selbe Ziel. Diese haben Seile mit. So bin ich froh, an den heikelsten Stellen davon profitieren zu dürfen. Meist geht es scharf an der Abruchkante entlang. Eine überaus lohnende und prächtige Aussicht sorgt für Kurzweil und lässt die Anspannung etwas zurücktreten. Ein lokales Gewitter macht sich grollend bemerkbar. An der Marmolada nichts ungewöhnliches zu dieser Tageszeit. Doch es verschont uns. Dann stehe ich endlich auf der  Königin Haupt.  Punta Penia! Von der Gletscherseite her sind derweil auch schon einige Leute hoch gestiegen, die nun zusammen mit uns ein buntes Völkchen bilden. Eine Stunde Schauen, Fotografieren und Sonnenbaden; dann abwärts über den Gletscher. An dessen unteren Ende eine gefährliche Situation: Das Eis ist dort bereits sehr dünn und das Wasser rauscht bedrohlich darunter hinweg. Hier helfen die Tschechen mal wieder mit einem 50-Meter Seil hilfreich aus. 

Anmerkung: Eine überaus lohnende Tour. Normalerweise "nur" als schwierig einstufbar. Bei Vereisung oder sogar Gewitter kann es allerdings sehr heikel werden. 

Etwas abseits der Königin, in deren Abglanz, steht eine wunderschöne, formvollendete Berggestalt. Deren Name lautet Colac. Mit dem ersten Lift fahre ich hoch zum Skigebiet Ciampac. Jetzt im Sommer zeigen sich die Hässlichkeiten im überdeutlichen Ausmaße, die dann für den Wintersport dienen. Also werden die Scheuklappen aufgesetzt und alle Konzentration auf den Colac ausgerichtet. Schon bald steigt man in den recht steilen, plattigen Trichter ein. Ein durchlaufendes Stahlseil ist hier auf jeden Fall vonnöten, um diese Schlucht durchsteigbar werden zu lassen. Die Füße werden auf Reibung ausgerichtet und los geht es. Für Außenstehende mag die dabei eingenommene Haltung lustig wirken. Ein Ausruhen gibt es hier nicht, man muss durch. Danach folgt eine Steilstufe, die etwas heikel per Steigklammern überwunden wird. Das Finale im zerklüfteten Gipfelaubau ist dann noch als sehr abwechslungsreich zu benennen. Rundum ist für das Auge mehr als genügend zu sehen. Dann wird es aber auch schon langsam eng am Gipfel. Ich steige über den etwas holperigen Normalanstieg ab und wandere noch den ganzen Tag durch das angrenzende, weitläufige Gebiet. 

 

 

 Geisler/Peitler/Puezgruppe

Wo der Messner zuhause, braucht man sich über fehlendes Publikum nicht zu beschweren. Zum Einstieg der Sas Rigais-Steige zu gelangen ist wenig mühsam. Die Col Raiser-Bahn schafft schon einiges hoch und nimmt einem die Hauptarbeit ab. Übernachten tue ich zunächst in der Regensburger-Hütte. Diese ist zwar zumeist auch gut gefüllt, doch hat sie den Vorteil, dass man früh am Morgen rasch weg kommt. Das ist gut so. Später besteht die Gefahr, Steine aufs Haupt zu bekommen – weil der Zulauf zum Rigais-Gipfel heftig sein kann. Der Anstieg über den östlichen Steig ist nicht allzu schwierig. Erst im oberen Fels wird es etwas luftig. Und so stehe ich schon bald auf des Gipfels höchster Spitze und habe die Aussicht auf die recht zahlreichen Gipfel kurze Zeit für mich alleine. Bald wird es aber  schon recht bald eng. Etwas vorsichtig über feingriesigen Schotter abwärts, ein paar wenige ausgesetzte Stellen insgesamt - das ist es dann auch schon auf der westseitigen Steiganlage. 
Der Sas Rigais hat von der Südseite her wenig Majestätisches zu bieten. Seine volle Schönheit erstrahlt erst aus der Tiefe des Villnößtales. Von dort führt nordwärts ein Steig zum Tullen hoch, jenes unscheinbaren Gebirge, das sich westlich des Peitlerkofels über der Würzjochstraße erhebt. Der Klettersteig, der über die Grate führt, heißt Günther-Messner-Steig. 
Es ist kühl, dicke Wolken schieben sich über das dunkle Gebirge. Ein scharfer Wind weht auf den Graten und treibt einige Schneeflocken in mein Gesicht. Allzu schwierig ist die Begehung nicht: eine Leiter, ein paar Seile an den abschüssigen Stellen, die den Füßen schon gut weiter helfen. Insgesamt ist der Morgen aber recht ausgefüllt und kurzweilig. Eine süddeutsche Gruppe kommt aus entgegengesetzter Richtung. Das war es dann auch schon fast an Publikum. In der Schlüterhütte lässt es sich gut niederhocken, aufwärmen und stärken, um dann auf dem Normalweg gemächlich dem Villnößtal entgegen zu wandern. 

Den Peitlerkofel sollte man nicht als Klettersteig bezeichnen – das wäre höchst übertrieben. Nur eben im Gipfelbereich ist eine leicht ausgesetzte Stelle, die sich aber gut per Sicherungseil begehen lässt. Trotzdem ein sehr schöner und lohnender Aussichtsberg. Einmal besuchte ich den Gipfel im Sommer, bei schönstem Himmelsblau, und später noch einmal mit meiner Frau Erika im Herbst, bei sehr düsterer Witterung. 

Ebenso wenig ist der Sassongher ein Klettersteig. 20 Jahre habe ich ihn links liegen lassen - doch nun wurde es mal Zeit. Im Herbst habe ich ihn zusammen mit meiner Frau besucht. Am Gipfelaufbau befindet sich eine kurze Aufsteilung, wo es gut tut, sich per Stahlseil hoch zu hangeln. Ansonsten: prächtige Aussicht. 

Und noch ein Dritter Gipfel wird gerne als Klettersteig bezeichnet. Die Große Cirspitze. Diese ist dann wohl auch am wenigsten als Steiganlage zu bezeichnen. Über massigen Besuch braucht man sich nicht zu beklagen. 
Etwas heikler ist die Westliche Cirspitze. Kurz vor meiner Heimreise - ich hatte ausgefüllte zwei Wochen in den Dolomiten verbracht - juckte es noch mal in den Füßen. Der Tag beginnt ausgesprochen sonnig, das Grödnerjoch döste noch im himmlischen Frieden vor sich hin, steige ich über die blumengesprenkelten Almwiesen an. An dünnen Stahlseilchen hangele ich mich hoch. Auch wenn die Cirspitze recht kurz geraten ist, unterschätzen sollte man sie nicht. Eine Selbstsicherung ist auf jeden Fall ratsam. Ein letzter Aufschwung noch und ich stehe auf einem winzigen Plateau. Friedlicher kann ein Bergmorgen kaum ausschauen, als von diesem hohen Balkon. 
Anmerkung: Alle beschriebenen Anstiege sind lohnend, wenn auch nicht allzu schwierig. Sas Rigais, Westliche Cirspitze und auch der Messner-Steig verdienen dabei etwas größere Aufmerksamkeit und Umsicht. 

 

Die Palagruppe

Ist der Rollepaß erreicht, tut sich eine märchenhafte Bergkulisse auf. Die Pala! Sie übt geradezu einen unwiderstehlichen Zwang aus, deren Reich zu besuchen. An Klettersteigen ist dieses wilde Felsland nicht eben arm. Beginnen möchte ich mit einem eher unbedeutenden, fast unbekannten Steig, dem Sentiero del Dottor. Erreicht habe ich diesen Steig im Zuge einer selbsterstellten Höhenwegesroute, die sich vom Fassatal über der Cima d'Aut zum Pelegrinopaß hinzog. Von dort wanderte ich dann weiter zum südseitigen Marmoladagebiet, samt Untergruppe, um dann in das noch ursprünliche Val Gares einzusteigen. Über wunderschöne Grasberge und durch eine blumenreiche Einsattelung gelange ich jenseits, vorbei an paradiesischen Kaskaden, hinunter ins Dörflein Col di Pra im Val di San Lucano. Dieses Tal gehört zweifelsohne zu den schönsten der Dolomiten. Einerseits wegen der überaus steilen und jäh abstürzenden Berge der San Lucano-Gruppe, anderseits den Riesentürmen der Agner-Gruppe wegen. Im leichten Anstieg erreiche ich das Biv. Dordei (steht möglicherweise nicht mehr), das inmitten lichten Baumbestandes seinen Dornröschenschlaf hält. Von hier wirken die südöstlichen Palagipfel in wilder Schönheit. Ohweia, denke ich, als ich am nächsten Morgen die verrosteten, schlaffen Stahlseile in den Händen halte (mittlerweile wird wohl ein Austausch stattgefunden haben?). Doch es geht gut! Das Absturzgelände ist dann auch recht bald überwunden. Der eigentliche Klettersteig endet damit aber auch bereits. Was folgt ist ein abenteuerlicher, reizvoller aber steiler Anstieg in die Hochregion der Pala. Absolute Einsamkeit hier - aber eine sehr schöne. Am Nachmittag erreiche ich die Trevisohütte. Es ist proppenvoll, der Sonntag lädt zum Hüttenbummel. Der Gastraumboden wird für mich und vieler anderer zum Nachtlager.

Der Fiamme-Galle-Steig versteckt sich etwas abseits und nördlich der Trevisohütte. Ich steige erst am Nachmittag von der Hütte ausgehend an. Es ist schwül. Schon bald ziehen dunkle Wolken auf. Trotzdem steige ich weiter, weil ich ohnehin vorhabe im Biv. Reali zu nächtigen. Zwei Wanderer, die sich im Abstieg befinden, kommen mir noch entgegen - dann ist Ruhe. Nicht so ganz - es hat ein kalter, schneidiger Wind eingesetzt. Nach einem lang ansteigenden Schneefeld werden die ersten Stahlseile erreicht. Über ausgesetzte Felsstufen geht es stetig höher. Alleine der kalte Wind treibt zu einen zügigen Aufstieg. Viele der Seile sehen nicht vertrauenerweckend aus. So manche Klammer und so mancher Stift ist aus dem Fels herausgerissen. Dieser Steig scheint schon lange der Vergessenheit anheim gefallen - von Reparatur keine Spur. Die Forc. Marmor erreiche ich dann schon im Regen. Ein kurzes abfallendes Schneefeld noch, dann lasse ich mich im Biwak nieder. Unter sechs teils angefeuchteten Decken, wird mir nach und nach etwas wärmer. Der Wind heult sein Lied, der Regen prasselt und irgendwann komme ich auf diesem trostlosen Bergflecken zu Schlaf. Die Besteigung der Croda Grande am folgenden Morgen wird umgehend gestrichen, wegen anhaltender Wolkenschwärze. Also die gleiche Prozedur wie gestern, nun im Abwärtsgang. Ein riesiger Steinbrocken saust vor mir mit enormer Wucht talwärts. Ich kann nur hoffen, dass sich noch niemand im Aufstieg befindet.

Der Bolver-Lugli-Steig ist wohl der bekannteste im Palareich. Schon die erste Seilbahn am Morgen zieht ein großes Aufgebot Richtung Klettersteig hoch. Das hat man nun davon, wenn man zu dieser Morgenstunde einsteigt. Etwa 25 Leute quetschen sich mehr oder weniger über die ersten Aufstiegsfelsen. Da weiß so mancher Karabiner nicht mehr, wo er hingehört. Irgendwie gelange ich dann doch nach vorne und kann so meinen Kopf durch den entgangenen Steinschlag wieder heil ins Tal bringen. Der Bolver-Lugli gehört durchaus zu der schärferen Sorte. An luftigen Passagen herrscht kein Mangel. Die Konzentration muss gegenwärtig bleiben. Als ich dann am Bivacco unterhalb des Cimone stehe, bin ich schon recht zufrieden. Den Vezzana-Steig wollte ich zwar auch noch anschließend machen, doch ein drohendes Gewitter rät zum Abstieg Richtung Rosettahütte. 

 

Der südöstliche Bereich der Palagruppe geizt ebenso nicht mit Schönheit. Die Pradidalihütte ist ordentlich gefüllt am Freitagmittag, als ich vom Cismontal kommend diese erreiche. Ferienzeit = Bergtourismus hoch²! Nach einem guten Schluck Bier nehme ich unweit der Hütte den Einstig zum Portonsteig. Sofort wird es merklich ruhiger. Drei Wanderer warte ich noch ab, bis sie den Einstieg nach unten verlassen haben. Dann geht es aber schon los. Scharfer Einstieg über Klammerreihen und sehr steil hoch. Scharf ist auch der nächste Aufschwung. Über ausgesetzte Steiglein geht es weiter bis zum Abstieg auf den Velosteig. Ein aussichtsreicher Weg führt Richtung Velohütte. Recht luftig unter dem Hosenboden wird es eigentlich erst zum Ende hin. Aber auch das wird gepackt; und die prächtigen Gestalten der Cima della Madonna und des Sass Maor lenken ohnehin ab. In der geräumigen Velohütte lässt es sich gut verweilen. Der Normaltourist findet hier kaum hin; und von der Terrasse aus ist der Sonnenuntergang in vollen Zügen zu genießen. Ich verweile gerne an diesem bevorzugten Platz. 
Am Samstagmorgen leuchtet die Sonne über einem ausgedehnten Nebelmeer. Kurzer Aufstieg zur Cima Stanga. Danach immer nur abwärts über dem südlichen Ausläufer der Palagruppe, den Buzattisteig. Mittels der eingelassenen Sicherungen hangele ich mich zu begehbarem Gelände hinunter. Ein Felsspalt scheidet in natürlicher Auslese Schlanke von weniger Schlanken. Ich schaffe es so gerade noch. Den Rucksack kann ich nur noch mit Gewalt durch zwängen. Diese Prüfung findet zu dieser Morgenstunde auch nur einmal statt. Wie so oft, bin ich mal wieder alleine unterwegs. Im kombinierten Fels/Waldgelände nun immer stetig abwärts. Keine weiteren Schwierigkeiten mehr, außer, dass die Knie nicht sonderlich gerne 1400 Meter Abstieg mögen. 
Was fehlt, das ist der Agner-Steig. Der Normalweg zum Gipfel ist jedoch nicht viel weniger spannend. Und Zeit zum Schauen blieb mir dort auch. Überaus lohnend! 
Anmerkung: Die Pala-Steige sind durchweg als schwierig anzusehen. Dafür bewegt man sich in einer der großartigsten Landschaften des Dolomitenraumes.

 

 

 

Sextener Dolomiten

Ein riesiger Bergraum, dieses Sextener Gebirge. Auf vielen Wegen war ich dort schon unterwegs. An Kletterrsteigen fehlen mir allerdings noch einige Namen, zu oft hat das Wetter nicht mitgemacht. Beginnen möchte ich vielleicht mit dem bekanntesten - der Sextener Rotwand. Geplant war eigentlich ein Aufstieg über den Zadonella-Steig, um dann folgend über die Rotwand wieder abzusteigen. Doch nahe beim Einstieg, unweit der Bertihütte, überrascht mich ein frühes Gewitter. Dann eben nächsten Tages von der Nordseite her ein weiterer Versuch. Bis zur Rudihütte lässt es sich gut einschweben. Danach setzt fröhliches Wetter ein. Die 1000 Meter sind kein Pappenstiel, doch die Schwierigkeiten halten sich auch in Grenzen. Unterhaltsam führt der Weg über die Rotwandköpfe. An vielen Stellen wirkt der Steig wie ein Freilichtmuseum des 1. Weltkriegs - hat der Krieg doch hier mächtig gewütet. An einer bevorzugten Stelle habe ich einen informativen Blick auf den Alpinisteig. Ein "Wegbereiter" schaufelt den Steig zur anstehenden Saison gerade vom Schnee frei. Erst am Gipfelaufbau gewinnt der Rotwand-Steig an Schärfe. Durch Sicherungsseile wirkt dieser aber gut entspannend. Auf dem kleinen Gipfelplateau wird es rasch eng. Nach Entschlackung der Futtertasche mache ich dann bereitwillig Platz für die Nachzügler. 


Alpinisteig, Roghelsteig und Cenga Gabriella hatte ich mir im Zuge des Höhenwegs 5 ausgesucht. Der erste Teil des Alpinisteiges bis zur Elferscharte ist leichter zu gehen, als es aus Sicht der Zsigmondyhütte scheint. Zwar immer schön ausgesetzt doch auf gut gangbarem Weg. Das dunkle Loch, dem Busento, betrachte ich dann auch nur als willkommende Abwechslung. An der Elferscharte wird es dann gleich schärfer. Steinschlag hallt durch den wenig erhellten, großen Kessel. Tief ausgetretene Spuren im Altschnee führen zwangsläufig Richtung Sentinellascharte. Einige Stellen quere ich dann allerdings mit viel Respekt vor der Tiefe. Der Steig ist nicht ganz unbelebt und gibt so der Einsamkeit keine Chance. Das düstere Wetter setzt in der Scharte noch einen drauf, indem es im scharfen Wind frische Schneeflocken aufwirbeln lässt. Und so richtig warm wird mir später in der etwas schmucklosen Bertihütte auch nicht. 
Der umgebende Bergraum wirkt hier ernst. Beim Weggang am Morgen ist der Weiterweg bis zur Unsichtbarkeit eingenebelt. Verflixt, wo ist nur der Anstieg zum Roghel-Steig? Doch dann klart es ein wenig auf und kann den Weg zur Einstiegsleiter erahnen. Mit dieser habe ich dann so meine Schwierigkeiten. Ein großer, schwerer Rucksack auf meinem Rücken, eine Kameratasche vor dem Bauch, und dann auch noch eine abdrängende Leiter? Irgendwie schaffe ich die 30 Meter dann doch, wenn auch mit vereinter Armkraft. Hochalpin geht es zwar weiter, doch nun in erträglichem Maß. Das dunkle Wetter lässt den Steig bedrohlich erscheinen; und in der Stallatascharte kommt noch ein scharfer, kalter und sehr stürmischer Wind hinzu. In der Südwand des Monte Giralba findet sich die Fortsetzung in Form des Gabriella-Steiges. Dünne, rostige und aufgesplissene Stahlseilchen lassen zunächst den Mut etwas sinken, als der Steig über abdrängende Felsen seinen Verlauf nimmt. Immer schön ausgesetzt geht es so weiter. Und als das Dach der Carduccihütte sichtbar wird, mag ich bereits glauben, bald im Warmen zu sitzen. Weit gefehlt. Leider eine Täuschung. Vorher kommt noch ein strammer, ausgesetzter Abstieg sowie eine weitläufige, schneegefüllte Rinne, ehe dann wieder langsam an Hüttenaufstieg zu denken ist. Doch vorher hat bereits ein recht kühler Gewitterregen eingesetzt. Ein langer, anstrengender Tag neigt sich in der Hütte bei langsam ansteigender wohliger Wärme dem Ende zu. Ein Sturm fegt nun den Himmel blank, und alle Felsen leuchten im warmen Abendlicht. Der Hüttenwirt (zu der Zeit ein Südtiroler), widmet sich in selten erlebter Freundlichkeit dem Wohl seiner Gäste.

Erwähnen will ich auch noch den Paternkofel. Lange Jahre hat der Aufstieg nicht geklappt, weil stets schlechtes Wetter herrschte, wenn ich gerade in der Nähe war. So wurde er auch einer meiner letzten Steige überhaupt. Eigentlich ist der Weg hinauf ja auch gar kein Klettersteig. So steige ich nun an einem Samstag aus Richtung der Zinnenhütte an. Wieder ist das Wetter nicht besonders freundlich. Im langen, dunklen Kriegsstollen spüre ich davon jedoch wenig. Unterhaltsam steige ich höher. Und der eigentliche Gipfel ist dann auch kein schwieriges Unterfangen mehr. Es ist kaum zu glauben… aber ich bin alleine hier droben. Erst später kommen noch einige wenige Leute bergwärts. Nach einem Auf und Ab Richtung Büllelejoch, ist ein weiteres Stück der Sextener Bergwelt geschafft. 
Anmerkung: Auch die Sextener Steige gehören durchweg der schärferen Art an. Doch irgendwie mögen sie mich wohl nicht so richtig. Meist wenn ich dort verweilte, hatte das Wetter schlechte Laune.

 

 

 

 

Rosengarten/Schlern/Latemar

Der Schlern ist der Auftakt zu einem selbstgeplanten Höhenweg. Dieser soll durch Rosengarten, Latemar, Lagorai und Palagruppe führen. Der Maximilian-Steig über die Rosszähne drängte sich so geradezu auf. Es sind die letzten Stunden des Juni, der Himmel wolkenlos und letzte Schneefelder auf dem Schlernplateau gleißen in der hochsommerlichen Wärme. Die Sonne verspricht den Tag heiß werden zu lassen. Der Gang über den Maximiliansteig ist ein Himmelstanz. Immer schön über den schmalen Gratrücken. Links grüßt die Seiseralm und dahinter die Geisler; von rechts grüßt der Rosengarten herüber. Nein, schwierig ist er nicht, nur etwas luftig, der Maximilian. Schon lange leuchtet das rote Dach der Tierser Alpl Hütte. Dorthin führt dann zum Schluss eine etwas holprig gangbare Schlucht. Eine Maß löscht den vorläufigen Durst. Ein beginnendes Brennen signalisiert für die kommenden Tage einen leuchtenden Sonnenbrand. Der Kesselkogel liegt am Weg und soll am nächsten Tag bestiegen werden. Doch dann hatte ich keine Lust mehr darauf (dabei blieb es bis heute). 

An einem schönen Tag im Oktober stand der Santnerpaß-Steig dann endlich auf dem Programm. Die Nacht vorher wurde es recht knackig, bezüglich der Minusgrade. Dafür hatte der Himmel nun ebenfalls ein knackiges Blau. Meine Frau war mal wieder mit. Sie sollte auch mal in den Genuss des Extremwanderns kommen. Das Klettern hinauf auf dem Santner ist recht unterhaltsam, die Schwierigkeiten eher minimal - und am Paß belohnt dann auch noch die großartige Sicht. Meine Frau war recht stolz, als Debütantin. Der anschließende Weg wurde aber noch schöner: Vajolettürme, Vajoletthütte - und über das Tschajerjoch zurück. Prächtig! (Irgendwann habe ich den Santner noch mal alleine gemacht).

Der Klettersteig über Masarespitzen und Rotwand ist sicherlich kein Spitzenerlebnis, doch unterhaltsam in der Wegführung ist er allemal. Beim Einstieg unweit der Rotwandhütte hat man sogar genügend Beobachter. So versucht man auch möglichst elegant über die Einstiegsseile zu kommen. Mal links mal rechts, mal hoch mal tief und mal mehr mal weniger ausgesetzt erreiche ich bald das etwas luftige Ende. Die Fortsetzung ist der Weg hinauf zur Rotwandspitze. Der Ostanstieg ist recht einfach. Hinunter zur westlichen Aufstiegsscharte verunziert ein durchgehendes Drahtseil unnötigerweise den Berg. Was das soll, weiß ich nicht. Auf jeden Fall nehme ich die Beine in die Hand, als plötzlich ein Gewitter andröhnt. Nur weg vom Eisen. 
Den Scaletteweg sollte man nicht als Klettersteig bezeichnen wollen. Es sind lediglich ein paar Sicherungsseile an den wenigen, etwas ausgesetzten Stellen, angebracht. Nichtdestotrotz sollte auch dieser Weg gemacht werden. Leitet er doch hinauf zu einem wunderschönen Flecken des Rosengartens. Würden hier die Gärten König Laurins angelegt sein, wäre zu dessen Wahl nur zu gratulieren. Im weitläufigen Gelände der Larsecgruppe fühle ich mich ungemein wohl, inmitten einer friedlichen Stille, an einem wundervollen Septembersonntag. 

Der Laurenzi-Steig war derzeit eher noch ein Geheimtipp. Deshalb reizte er mich schon, weil hochgelobt. Vom Fassatal ausgehend steige ich über einen einsamen Weg an, der mich Richtung Antermoiahütte bringen sollte. In den östlichen Larsecabstürzen hatte tags zuvor ein riesiger Wandausbruch stattgefunden. Doch in Unkenntnis dessen war ich nun in seiner direkten Falllinie geraten. Immer wieder donnerten mit unheimlichem Getöse, verbunden mit riesigen Staublawinen, Massen an Felsbrocken aus der Wand. Es gab nur einen Weg und der führte mitten durch das Gewusel aus Felsbrocken. Ich spurtete während einer Ausbruchspause durch das 200 Meter breite Chaos. Und ich schaffte es - ehe es dahinter schon wieder kräftig donnerte. Der Krach der Ausbrüche war auch während der Nacht in der Antermoiahütte weiter zu hören. 
Doch nun steht der Einstieg in den Laurenzisteig an, der über den Molignon führt. Das heißt zunächst: nimm alle Kraft zusammen die du hast und hangele dich, fast trittlos, über einen Steilaufschwung hoch. Nachdem hier die erste Auslese getroffen wird, läuft es sich nach dieser Stelle aber schon wieder viel  besser. Wieder bin alleine hier droben; und die Sonne meint es wieder gut. Aussichtsreich geht es weiter bis zum schärferen Teil des Steiges. Nun heißt es, mal links, mal rechts das Gleichgewicht und auch die Seele ausloten lassen. Die Almwiesen im tiefen Grund leuchten im schönsten Sommergrün und geben dem Steig so ein entspanntes Ambiente. Teils hat der Weg etwas vom Charakter des "Olivieri" an der Punta Anna über Cortina (dazu später mehr). Es wird nicht langweilig. Immer wieder ist die Lust zum Schauen da. Solche Wege mag ich und nicht jene, die ein stures Klettern erfordern. Später, in der Tierser Alpl Hütte, bin ich schon recht zufrieden mit dem, was der zurückliegende Morgen an kleinem Glück auf dem Laurenzi-Steig hinterlassen hat. 

Zu erwähnen sei auch noch der Campanili del Latemar. Um diesen, nicht sehr stark frequentierten Latemar kennen zu lernen, erschließt man ihn sich am besten durch eine Rundtour über die weite Fläche  seiner Hochebene. Aus welcher Richtung man den Steig beginnt, spielt keine Rolle. Er ist eher wenig schwierig. Und wo es etwas luftig wird, ist er gut gesichert. So steige ich durch die Felsen, die sich unten aus den Sichtfenstern der Touristen-Busse ach so malerisch im Karersee spiegeln. Am Ende, im Biv. Rigatti, mache ich es mir dann zwangsläufig einige Stunden unter Decken bequem, weil das Gewitter, das derweil hereingebrochen ist, ausgiebig seine Kraft austobt. So wird aus dem Tag noch ein recht ausgefüllter. 
Fazit: Den Rosengarten auszuklammern hieße, sich um mancherlei Schönes zu betrügen. Der Latemar ist immerhin ein Tipp, wenn man den Massen entfliehen will. 

 


Sella/Plattkofel-Steige

Der sanfte Bruder des Langkofels ist der Plattkofel. Allerdings hat er auch eine raue Seite. Und dort hinein hat man den Oskar Schuster-Steig gebaut. Ich quere die weite Arena des Langkofelmassivs, dessen Inneres sich mit einer fast heiligen Stille umgibt. Vor dem Einstieg ein Altschneefeld, wo sich eine kleine italienische Gruppe recht lautstark über die Möglichkeiten des Aufstieges auslässt. Dessen ungeachtet komme ich recht gut voran. Der Steig bietet recht kurzweilige Abwechslung und ist weitgehend naturbelassen. Hier und da schon mal recht luftig, doch nirgendwo braucht man zu resignieren. Das Gipfelkreuz teile ich dann mit der zahlreichen Schar derer, die über die sanfte Seite hoch kommen. Die Seiseralm liegt in voller Größe und Pracht zu meinen Füßen. 

Der Pößnecker Steig, unweit des Sellajochs, ist bereits ein uralter. Doch sein Alter wird in Ehren gehalten, denn wie sonst ließe sich der rege Besuch erklären. Es ist Sonntagmorgen. Gestern am Sellajoch angekommen, und momentan noch  lustlos. So ist es bereits 9.00 Uhr  und überlege immer noch. Während ich noch unschlüssig die umgebenen Wände anschaue, füllt sich das Sellajoch mit beängstigender Schnelle. Nun gebe ich mir doch einen Ruck und strebe dorthin, wo so viele hinwollen. Es knubbelt sich bereits am Einstieg. Schreie, Juchzer sowie wilde Flüche begrüßen die Hinzukommenden. Da wird überholt, man verfängt sich in den Selbstsicherungen, und einige Karabiner klicken dorthin, wo sie nicht hingehören. Warum nur im fortgeschrittenen Sonntagmorgen hier rein, stellt sich mir die Frage? Manche lassen mich mit freundlicher Miene den Überholvorgang vollenden... andere verteidigen mit verbissener Willkür ihr Territorium. Doch irgendwann schaffe ich es doch, in der nun etwa 50-köpfigen Schar unter die ersten 10 zu sein. Mit lustig ist es aber nun aus. Der Pößnecker zeigt seine scharfe Seite. Ich strebe von Stahlseil zu Stahlseil höher, und irgendwann stehe ich plötzlich sehr, sehr luftig in der freien Wand. Ich weiß nicht wie - der falsche Fuß war wohl schuld - doch nun habe ich das Gefühl, gleich wegzu kippen. Das war mir bisher noch nicht passiert. Sofort schießen die Gedanken durch den Kopf: Wird mich die Eigensicherung halten…? Nun, um diesen Test komme ich herum, weil im letzten Moment der Körper den Schwerpunkt wieder ausloten kann. Da pocht es schon gewaltig in der Herzgegend. Alle Schwierigkeiten werden dann endlich gemeistert - bis zum ersten Plateau. Hier scheint die Sonne mit einer der Stimmung erhellenden Intensität. Der weitere Weg wird noch schön beschaulich. Ohne große Probleme wandere ich den Steig zu Ende. 

Welch ein Erlebnis dann auf der gegenüberliegenden Seite, beim Pisciadu-Steig. Er wird vielleicht noch mehr begangen, als sein altehrwürdiger Bruder. Am Vorabend ergoss sich ein Riesengewitter über die Sella. Doch nun am jungen Morgen bietet sich mir, dem früherwachten Bergsteiger, ein Traumbild. Corvara liegt versteckt unter einem Nebelmeer, darüber nimmt die Sonne ihren Lauf - beginnend mit rosarot Geblende. Raureif auf den Wiesen, Eiszapfen an den Felsen, der Himmel glanzklar. Mit froststeifen Fingern hinauf über die Klammerreihe des unteren Aufschwungs. Dann die Wanderung zum Wasserfall. Nun Einstieg in den kalten Fels. Es ist erst kurz nach 7.00 Uhr früh, und was Wunder, ich bin absolut alleine auf diesem Mode-Klettersteig. Luftig die Wegführung, wärmend die Morgensonne. Und immer bleibt ausreichende Muße zum Schauen und Fotografieren. Der Motive gibt es genügend, als die Sonne den Nebel nach und nach auflöst und dem dunklen Nadelgehölz ergreifend schöne Naturzenarien abringt. Noch mal volle Konzentration am letzten und schwierigsten Stück, dem Externturm. Die Hängebrücke glitzert mit Eisdiamanten und führt endgültig hinaus in die Sonnenlandschaft des Sellaplateaus. Eine himmlische Ruhe umgibt den Eissee. Einzig in der leeren Pisciaduhütte werkelt der Wirt in Erwartung der kommenden Unruhe. Diese erscheint bereits am Beginn der Sicherungsseile des Normalweges, der aus dem Val Setus ansteigt. Die Horde der Aufsteigenden wird immer größer und an einem geregelten Abstieg ist nicht zu denken. Ich versuche auszuweichen, gehe etwas abseits der glattpolierten Aufstiegsfelsen. Doch wie sagt Volkes Mund: die meisten Unfälle passieren beim Abstieg. Eine kleingriffige 4-Meter Aufstufung wird mir dann zum schmerzenden Andenken. Ich rutsche ab! Aufschlag genau auf den Teil, den man Steiß nennt. Nun weiß ich was Höllenqualen sind. Und diese musste ich noch gut 900 km aushalten, denn der Heimweg war geplant, nur eben nicht unter diesen Umständen. Es dauerte Wochen, bis die hinteren Verfärbungen wieder natürlich aussahen. 
Anmerkung: Die Sella bietet vielerlei Abwechslung, die Klettersteige gehören einfach dazu; zwar eher recht schwierig, doch auch schön abenteuerlich. 

 


Im Reich von Tofane und Fanes

Lange hatte ich mich nicht so recht rangetraut, hatte die Tofane beim Gang auf den Höhenwegen und von den Passstraßen aus bewundert. Doch nun schien mir die Zeit reif. Als Auftakt hierzu und quasi als Eingehroute hatte ich mir einen eher unscheinbaren Berg ausgesucht, der in der Wucht der Tofane fast untergeht. Col Rosa ist sein Name, und der Steig zu dessen höchster Spitze heißt Ferrata Bovero. Nur zu, sage ich mir, der Urlaub hat gerade erst begonnen und der Kräfte sind noch genug vorhanden. Und es geht steil an. Luftig wird es, manchmal sogar sehr luftig, doch die Sicherungen schaffen Vertrauen. Flache Stellen zum Ausruhen sind eher rar, dafür ist der Steig nicht sehr lang. Ein letzter Aufschwung noch… und ich stehe am Gipfelkreuz. Kurzer Schwatz mit einem Italiener, der nachkommt, und auf die Schnelle etwas für seine Gesundheit tun wolle, wie er mir zu verstehen gibt. Und schon entschwindet er über den Steig wieder nach unten. Ich bin wieder alleine mit meinen Gedanken, träumte etwas vor mich hin in der warmen Sonne. Beim Abstieg auf dem Normalweg ist keine Menschenseele auszumachen. So genieße ich die Natur an diesem abgeschiedenen Ort in vollen Zügen. 

Tofana di Rozes heißt die mächtige Felsbastion, die sich so grandios über der Falzarego-Passstraße erhebt. Ein Rudel Gämsen kreuzt meinen Weg, als ich kurz nach Sonnenaufgang Richtung Einstiegsloch strebe. Ja, der Lipellasteig beginnt mit äußerster Dunkelheit. 500 Meter ist der ehemalige Kriegsstollen lang. Schaurig hallen meine Schritte von den Wandungen wider. So gelange ich zum schattigen Teil der Tofana di Rozzes. Eis steht auf den Pfützen vom Gewitterregen der letzten Nacht. Kraft kostet es, den steilen Fels bis zur jeweils nächsten Stufung zu überwinden. Ausruhen gilt nicht, ich möchte zur Sonne. Doch das dauert. Als ich dann den Gipfelaufbau erreiche und die Hände nicht mehr zum Steigen benötige, atme ich erst mal kräftig durch und finde nun endlich die Muße, das prächtige Panorama zu genießen. Der letzte Aufschwung ist noch gut mit Schnee bedeckt und suche so etwas mühsam nach einer Spur durch den schottrigen Fels zum Gipfel. Das Gipfelglück halte ich kurz. Ein kalter Wind treibt Wolken vor die Sonne. Adieu, Tofana di Rozes. 
Schwatzende italienische Geselligkeit dann später auf der Giussanihütte. Von dort ist bereits die Punta Anna gut einzusehen. Darüber hinweg zieht der Olivieristeig
Am folgenden Morgen befinde ich mich bereits im Anstieg dorthin. Knackig, wäre die treffende Bezeichnung für das Steigen über die sehr luftigen Grate. Stramme Stahlseile geben mir aber das nötige Vertrauen, nicht zu zweifeln. Ausruhen gilt hier auch nicht, denn ich weiß um die Länge des Gesamtweges. Bin ich auch richtig, stehe ich fragend an einer Stelle, wo der Steig scheinbar in die freie Luft hinausführt. Niemand unterwegs, der mir diese Frage beantworten könnte. Etwas tiefer bemerke ich ein Stahlseil. Und als ich vorsichtig um die Kante lauere, finde ich mich bestätigt, dass ich die schaurigste Stelle des Klettersteiges erreicht habe. Blutleer greifen bzw. umklammern meine Finger das Sicherungsseil. Das Atmen vergesse ich beinahe beim Durchsteigen dieses Querganges. Danach fühle ich mich leicht - sehr, sehr leicht. Was soll jetzt noch Schlimmes kommen... und gebe mir umgehend den Befehl, weiter zu Steigen. Im dunkelsten Winkel der Tofana di Mezzo nun steil weiter über den altschneebedeckten Gipfelaufbau. Dabei gilt es so manches verrostete Schneegatter zu überwinden, die zum Schutz vor Lawinen nicht gerade umweltschön hier anlegt wurden. Eine Stufe folgt der nächsten, und endlich stehe ich auf dem Gipfel. 3243 Meter, so die amtliche Höhenangabe. Nur wenige Gäste gaffen aus dem im Nebel eingetauchten Gipfel. Nach der Mittagspause besteige ich die Seilbahn und werde sogar kostenlos bis zur Mittelstation abgefahren. Auf einem holperigen Felsenweg erreiche ich irgendwann wieder die Dibonahütte. 

Etwas versteckt hinter dem Lagazuoi recken sich die Fanistürme hoch in den blauen Himmel des fortschreitenden Septembers. Auf den südlichsten Turm führt der Tomasellisteig. Als Paradesteig wird er ja gerne verschrien; und eben deshalb gehörte es zur Pflicht, ihn machen zu müssen. Viel Gedanken über den Aufstieg mache ich mir nicht, ist doch all mein Handeln auf die Schlüsselstelle am Beginn des Einstieges gerichtet. Nun - ich bin enttäuscht! Zwar sind die Tritte abgewetzt, und die Zehen krallen sich um etwas, was nicht vorhanden ist. Doch die Passage ist kurz und nicht so sehr der Rede wert. Es folgt das übliche Übersteigen von Felsmasse, jedoch alles im gemäßigten Rahmen. Doch dann stehe ich vor dem eigentlichen Turm. Und jetzt wird es nur noch schwierig. Dabei haben die Arme die meiste Arbeit zu verrichten. Nachlassen gilt nicht - scharf und sehr luftig immer höher. In punkto Kraftanstrengung ist dieser möglicherweise mein schwierigster Steig. Wozu brauche ich hier eine Kamera? Zum Fotografieren und zum Genießen der Landschaft fehlt es hier wahrlich an allen Ecken und Kanten - der Ausgesetztheit wegen. Obwohl die Umgebung Reichliches zum Schauen anbietet. Ein letztes Abdrücken der Füße am Fels, dann bin ich entlassen auf einem winzigen Plateau, oberhalb aller Luftigkeit. Selbst der Abstieg wird zur Tortur. Er zeigt sich wenig gastfreundlich. 

Anmerkung: wer sich auf diese Berge einlässt, muss wissen, dass es recht schwierig werden kann. Doch zum Schauen und Genießen in dieser großartigen Landschaft bleibt eigentlich immer noch Zeit und Muße. Den "Tomaselli" schließe ich aber davon aus. Er hat mir nicht gefallen. Wie schon gesagt, ich gehe nicht aus sportlichen Gründen in die Berge, sondern betrachte Klettersteige als abenteuerliche Einlage zu Bergwanderungen. 

 

 

Die Steige des Cristallo-Massivs

Über dem Boitefluß hinweg, im Osten, erhebt sich ein nicht minder schönes Gebirge, das Cristallo-Massiv. Davor erstreckt sich noch der Pomagagnonzug. Dessen Westpfeiler trägt den Namen Punta Fiames. Dort hinauf führt zum Beispiel der Michael-Strobel-Steig. Es ist noch allerfrühster Morgen, als ich über die ehemalige Bahntrasse zum Einstieg strebe. Erst gestern hatte ich den Col Rosa als Einstieg in den Urlaub gewählt, heute sollte es dann schon etwas würziger werden. Auch hier am Strobelsteig geht es recht senkrecht an. Viele Klammern, viele Seile - aber es macht Spaß im terrassenartigen Fels hochzusteigen. Langweilig wird es nicht und übermäßig schwierig auch nicht. Das Schwitzen hält sich im Rahmen dessen, was eine schattige Wand so abverlangt. So luge ich auch schon recht bald über den Rand des Gipfelaufbaus. Fast gleichzeitig mit den Köpfen zweier Kletterer, die aus der Südwand aussteigen. Auf einem kleinen Vorbau genieße ich nun mehrere Stunden lang die Sonne, die nach und nach Cortina ausleuchtet, das nun in voller Ausdehnung zu meinen Füßen liegt. Zahlreiche Bergdohlen freuen sich auf den Inhalt meines Rucksacks. 

Zu den Gipfeln des Cristallo führen mehrere Wege. Der einfachste Einstieg wäre jener mit der Seilbahn vom Süden her. Ich habe es nicht eilig und nehme so den beschwerlichen Anstieg aus dem Norden. Vom Gasthof in Ospitale steige ich durch den zunächst noch dichten, dann aber immer sonniger werdenden Bergwald an - bis dann der eigentliche Rene de Pol- Klettersteig beginnt. Klettersteig ist dabei eigentlich zu viel gesagt, es ist ein ehemaliger Stellungsweg. Die Sicherungen sind durchweg in Ordnung und geben so das gewisse Gefühl an Sicherheit, die man zur psychischen Balance braucht. Dieser Weg wirkt aber im Ganzen gesehen düster; und er belastet auch irgendwie. In Gedanken versuche ich nachzuvollziehen, wie es damals im 1. Weltkrieg hier zugegangen sein wird. Und eigentlich bin ich dann auch recht froh, aus den einsamen, dunklen Schluchten hinaus zum Licht steigen zu dürfen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich die Einsamkeit geradezu anziehe. Auch hier bin ich schon weit oberhalb des Klettersteiges, als ich erstmals zwei Wanderern begegne. Dabei bleibt es dann auch bis zum Cristallo. Dort hingegen, wenn auch noch sehr weit weg, kann ich bereits das ameisenhafte Völkchen sehen, welches die berühmte Hängebrücke quert. Es wird heiß, es wird strapaziös im langen Anstiegsfeld. Später wird es sogar ausgesprochen kräftezehrend, als ich durch Altschneefelder und Geröll den Gipfelpfad erreiche. Es ist noch recht früh am Nachmittag. Die Lorenzihütte quillt über. Die Hüttenterrasse ist der einzige ebene Platz hier droben. Und was tun Italiener am liebsten auf ebenen Plätzen? Richtig, die Nase geradeaus in die Sonne halten. Irgendwie schaffe ich es dann doch noch, eine Lücke aufzuspüren. Und als die Seilbahn dann endlich die letzten Tagesgäste aufgeschaufelt hat, wird es endlich sehr schön hier oben. Die wenigen verbliebenen Gäste wollen hier übernachten. Eine fast feierliche Stille legt sich nun über diesen wunderbaren Ort. 

Als die Sonne sich bereits weit im Westen befindet und ich mich von den Strapazen des Tages etwas erholt habe, lege ich die Selbstsicherung an und steige über den Bianchi-Steig Richtung Mittelgipfel. Der Fels leuchtet in vielen satten Rot- und Braunschattierungen. Und fast vergesse ich vor lauter Schauen, dass der Steig auch seine Schwierigkeiten hat. Einige sehr luftige Stellen fordern schon die Konzentration. Eine letzte Mutprobe noch, dann liegt die Gipfelebene vor mir. Der Monte Popena drüben leuchtet verschwenderisch in der Abendsonne. Die vielen anderen Gipfel werden bereits von langen Schatten überzogen. Zwischen den Felsen bilden sich skurrile Figuren heraus, hervorgerufen durch die wechselnde Beleuchtung. So müssen wohl einst Sagen entstanden sein. Endlich löse ich mich und erreiche nun schon fast in der Dämmerung die Schutzhütte. 

Am Morgen stehe ich schon früh auf der hölzernen Hüttenterrasse. Die beginnende Ausleuchtung der Berge ist schon recht betörend anzuschauen, hier von diesem Hort der Stille. Doch nun befinde ich mich bereits auf dem Dibonasteig. In einem langen Marsch wird mich dieser Weg wieder nach Ospitale zurückführen. Der Weg zur Hängebrücke über den Abgrund gehört mir nun bei Tagesbeginn noch ganz alleine. Alte Kommandostände des Gebirgskrieges säumen zunächst die schmalen Felsenwege. Im seltsam geformten, schräg aufgesteilten Fels wird es dann richtig interessant. Und irgendwie schafft der Steig es immer sich durch diese Formationen durchzuwurschteln. Fast möchte man vergessen, dass auch dieser Weg ein Klettersteig ist, mit teils luftigen Stellen. Es gibt einfach zu viel zum Schauen, die Natur ist großartig. Weitere Stellungen, die an ehemalige Kampfhandlungen erinnern, folgen. Der Frühe wegen bleibe ich auch auf dem weiteren Weg alleine. Erst viel später wird die Landschaft bescheidener in ihrer Ausstrahlung. Doch da bin ich bereits fast in Ospitale. 
Jahre später wiederholte ich den Dibonasteig noch einmal; weil er mir doch so gut gefallen hatte. Es ist der letzte Tag der Saison. Noch ahnte ich nicht, dass der Dibona mein letzter Klettersteig sein würde. Die Gesundheit machte einen Strich durch das Bergleben. (Ein Kurz-Video dazu habe ich bei YouTube eingestellt). 

Anmerkung: Die Steige des Cristallogebietes sind nicht das Schärfste, was Klettersteige bieten können; eher etwas zum Schauen, zum Wohlfühlen und nicht zuletzt, zur inneren Einkehr.

 

 

Civetta/Moiazza-Gruppe

Noch ist es fast dunkel, als ich vom Parkplatz unterhalb der Coldaihütte Richtung Civetta ansteige. Über dem Monte Pelmo schickte sich der Himmel an, in den harmonischsten Farben brillieren zu wollen. Bald wird die Sonne erscheinen. Den frühen Zeitpunkt habe ich gewählt, weil der Allghesi-Steig recht beliebt sein soll. Tatsächlich vernehme ich aus der Coldaihütte allgemeine Aufbruchstimmung, als ich dort vorbeikomme. Zum Einstieg ist es noch ein gutes Stück zu marschieren. Im Steilfels des ersten Aufschwungs, inmitten von Klammern und Stiften hängend, eine 3-köpfige italienische Gruppe. Lautstark fachsimpeln sie darüber, wie sie es wohl am besten angehen werden, dieses schwierige Stück zu überwinden - so glaube ich die Situation zu verstehen. Und das dauert. Weitere Aspiranten erscheinen auf der Fläche und sind in Erwartung darauf, einsteigen zu dürfen. Es hilft alles nichts, der Kampf um die Klammern und Stifte beginnt. Also über Füße steigen, unter Selbstsicherungen hindurch, um dann endlich den freien Anstieg zu erheischen. Der weitere Aufstieg verläuft ziemlich direkt und ist nicht so überaus abwechslungsreich. Zwar ist der Weg recht stramm, doch als schwierig empfinde ich ihn nicht. Am Übergang zur Nordseite fällt der Blick erstmals in das Riesenbollwerk der Nordwand. Ich bin schon ergriffen von der Mächtigkeit dieses Berges. An dieser vorzüglichen Aussichtsstellung mache ich dann eine ausgiebige Frühstückspause. Ich brauche nicht unbedingt erster Gipfelgast des Tages zu sein, das überlasse ich der nun nachfolgenden Gruppe. Im abwechslungsreichen Gipfelfels erreiche ich dann bald den Hauptgipfel, der   bei 3220 Metern endet. Ein Klettersteig führt ja nicht alle Tage auf einen 3000er. Und diese Erlebnis will ich nun genießen. Der Blick ist frei auf all die großen Gestalten der Dolomiten. Bis der Himmel dann etwas zumacht und deshalb an baldigen Aufbruch denke. Der Normalweg (Tivanweg) ist recht lang und strapaziös - auch im Abstieg. Teils ist er sogar ein wenig klettersteigartig angelegt. Später am Wandsockel wird das Wetter dann auch wieder angenehm und habe sodann genügend Muße, über einen großartigen Tag nachzudenken. 

Den Moiazzabergen, dort im Süden der Civetta, wird immer wieder nachgesagt, dass diese eine Klettersteiganlage der besonders harten Sorte beheimatet. Ferrata Costantini! Es hat denn auch einige Jahre gedauert, ehe ich meinte, nun wäre ich  endlich reif, dieses Wagnis einzugehen. Mittlerweile weiß ich aber auch, dass eine Berg-Gazette von der anderen abschreibt - und deshalb sollte man dem ganzen Rummel nicht so viel Wichtigkeit zukommen lassen. So stieg ich dann an einem eher diesigen Morgen vom Passo Duran kommend zum Rif. Carestiato an. Auf dem Vorplatz der Hütte macht sich soeben eine siebenköpfige italienische Gruppe steigbereit. Soll ich es wagen - als ich fragend in die nun etwas düster wirkende Moiazza hochschaue? Ich wage es! Schon bald hinter der Hütte dann die ersten Prüfungen. Sehr ausgesetzt im Quergang führt der Steig zur berühmtesten Stelle des gesamten Weges. Die Querung jener Schlüsselstelle ist mittlerweile so glatt, dass ich glauben mag, die Falten des Felsens sind als Sorgenfalten in die Gesichter der Klettersteigaspiranten übergegangen. So schlimm wird es dann aber doch nicht. Zunächst muss jedoch die Gruppe der Siebenköpfigen hinüber - und das dauert. Alles wird nämlich zusätzlich mit einer großen Videokamera genauestens dokumentiert. Dann bin auch ich an der Reihe. Da der Felsen so glatt ist, habe ich meine Füße mangels der wenigen Aufsetzpunkte fast schon auf Seilhöhe auf Gegendruck gesetzt. Elegant sieht es vielleicht nicht aus - doch nun  bin ich hinüber. Die eigentlichen Schwierigkeiten folgen meiner Empfindung nach aber erst danach. Klammern leiten höher durch steilen Fels, wo ich mich so manchmal recht verwinde. Das ist denn auch meine persönliche Schlüsselstelle. Es folgt eine ebener Platz, wo man sich erstmals ausruhen darf. Das Wetter hat sich derweil noch mehr zugezogen und Nebel setzt ein. Im Glauben, das hinter mir ja noch die Gruppe der Siebenköpfigen kommt, setze ich den Weg fort. Recht stramm werde ich durch die Aufschwünge weitergeleitet. Sehen tue ich ohnehin nicht viel. Und da der Weg recht lang ist, gönne ich mir auch keine weiteren Pausen. Ab und an kann ich aber doch einen Blick auf die weite Fläche Richtung Civetta werfen. Fernsicht gibt immer Auftrieb. Der Höhepunkt folgt an der Cenga Angelini, dem "Engelsband". Das Wetter klart hier nun auf, und der Blick folgt dem Steilfels hinunter in die scheinbar unergründlichen Tiefen. Hier wünsche ich mir dann tatsächlich die Flügel eines Engels. Durch eine riesige Felseinbuchtung leitet der sehr dürftig schmale Pfad horizontal hinaus in gangbares Gelände. Ein gutes Stück tiefer und weiter die verdiente Rast am Biv. Ghedini. Der Abstieg hat dann noch mal satte 800 Meter. Sehr strapaziös alles, und die Kniegelenke freuen sich kein bisschen. Zur Hütte zurück noch ein längerer Querweg. Dann endlich freut sich ein großes Bier darauf, getrunken zu werden. Was mich irritiert: die Italiener sind schon da? Ich werde dann aufgeklärt, dass sie schon bald nach der Schlüsselstelle wieder umgekehrt sind. Also war ich doch die ganze Zeit alleine auf dem Costantini unterwegs. 
Anmerkung: Da wegen des recht trüben Wetters eine Einschränkung in meiner objektiven Beurteilung liegt, kann ich auch nicht behaupten, dass der "Costantini" der Größte sei. Vielleicht ist er es ja doch! Irgendwann (vielleicht), bei schönerem Wetter, werde ich ihn noch Mal besuchen. Und da es in der Civettagruppe noch zwei weitere Steige gibt, die recht interessant sein sollen, wäre schon ein guter Grund, noch mal wiederzukommen. 


Hier und dort habe ich noch ein paar Steige gemacht, die eigentlich so gar keine echten Klettersteige waren; oder es waren welche und habe nur den Versuch unternommen einzusteigen - um dann doch wieder abzubrechen. Spielt auch keine Rolle. Wichtig ist für mich nur der Weg. Wenn dieser in mir Harmonie schuf, war es stets der richtige Weg. 

 

Und eine letzte Anmerkung...

Heute weiß ich, dass die Dolomiten mir keine Besteigungen mehr erlauben werden. Eine Erkrankung sagt NEIN dazu. Obwohl ich viel gesehen und erlebt habe, bleiben doch noch so manche weiße Flecken. So zum Beispiel in den südlichen Sextener Dolomiten oder in den Beluneser Bergen.

Sehr gerne hätte ich auch noch einige Besteigungen gemacht, als auch Klettersteige.

Was bleibt, das sind die Erinnerungen - sehr schöne Erinnerungen.

 

 

 

Die präsentierten Bilder zeigen nur einen kleinen Ausschnitt. In den Anfangsjahren bannte ich das meiste auf Super8-Filmen. Die allermeisten Aufnahmen aber schlummern als Dias im Schrank.